Moment mal! Gabriele Pochhammer: Aachen, wie es früher war

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Die Pferdewelt blickt nach Aachen. Seit vergangenem Freitag ist wieder CHIO-Zeit. Seit Tagen rollen die LKW mit ihrer wertvollen vierbeinigen Fracht in Richtung Soers. Das Weltfest des Pferdesports ruft und alle, alle kommen. Gabriele Pochhammer über die Zeit als der Rolex Grand Prix noch ein Jagdspringen war und ein Friseur hinter der Tribüne darauf wartete, zerdrückte Amazonenfrisuren zu richten.

In Aachen gehen in dieser Woche die Uhren mal wieder anders. Es ist CHIO-Zeit. CHIO: Concours Hippique International Officiel – das Synonym für besten Sport auf allen Bühnen. Internationales offizielles Reitturnier ist die Übersetzung des feinen französischen Namens, das „O“ steht also für offiziell und heißt, dass in mindestens zwei Disziplinen ein Nationenpreis ausgetragen wird, in Aachen in nicht weniger als fünf Sparten: Springen, Dressur, Fahren, Vielseitigkeit und Voltigieren. In jedem Land gibt es nur einen CHIO und deswegen sitzen beim Nationenpreis auf den Samtsesseln der großen Haupttribüne immer allerlei Honoratioren, die in ihrer Bedeutung den gemeinen VIP meilenweit übertreffen und deswegen auch einzeln vom Sprecher begrüßt werden. Royals und Bischöfe waren schon da, Präsidenten, Kanzler und Minister. Sie werden von hinten durch einen kleinen feinen Raum nach oben geleitet und haben den besten Blick.

Rückschau

Auf der Rückseite der großen Tribüne gab es früher eine Post und auch einen Damenfriseur, der die von Reitkappen zerdrückten Frisuren der Amazonen wieder richtete. Ich war zehn Jahre alt bei meinem ersten Aachen-Besuch und durfte, was es sonst nicht gab, am Samstag die Schule schwänzen. (Das haben die Kinder von heute nicht mehr nötig, weil Samstag sowie fast über all frei ist.) Wenn man Glück hatte, fiel der Feiertag „Peter und Paul“ auf den Freitag, das war ein Tag Aachen mehr. Die Aachener Kinder hatten in dieser Woche immer die beste Ausrede, wenn sie keine Vokabeln gelernt hatten, das CHIO rief. Ich durfte bei meiner Tante wohnen, die jeden kannte, der irgendwie mit dem Turnier zu tun hatte und demzufolge auch über eine Dauerkarte auf der Haupttribüne verfügte, der einzigen Tribüne mit Dach über dem Kopf. Wir Kinder saßen auf feuchten Holzbänken auf der sogenannten offenen Tribüne, die die Soers umgab, Wind und Wetter, das heißt meist auch Regen ausgesetzt. An eine trockene Aachen-Woche kann ich mich nicht erinnern. Das war aber völlig egal. Die tollen Reiter und Pferde machten alles wieder wett. Damals kannte ich jedes Pferd quasi persönlich, man durfte sich in den Ställen ungestört umsehen, es gab keine meterhohen Zäune und bewachte Eingänge. Hier traf man auch die Reiter und konnte auf Autogrammjagd gehen. Unter den Kindern wurde schwunghaft gehandelt, ein Pessoa gegen drei Winkler war die Währung. Nelson Pessoa, der brasilianische Rekord-Derbysieger und Vater des Olympiasiegers von 2004 in Athen, Rodrigo Pessoa, war unser Held im Springsattel. Er ritt einen kleinen Schimmel namens Gran Geste und in einem Jahr gewann er alle großen Prüfungen. Er ließ ihn mit ganz hoher Nase gehen, wirkte ganz fein ein, ein Genuss, das anzusehen. Der Große Preis von Aachen war damals eine Mischung aus „Jagdspringen“, wie schwere Parcours damals hießen, und Mächtigkeitsspringen. Also ein Umlauf mit Stechen bis zur Entscheidung. Manche sagten auch, bis zu Verzweiflung. Nach dem vierten Stechen wurde meist abgebrochen und der Sieg geteilt, in der Regel war die Mauer dann bereits höher als zwei Meter.

Italiener und Iren

Andere Größen dieser Tage waren die italienischen Brüder Piero und Raimondo d’Inzeo. Sie ritten meist statiöse, nicht sehr schöne, aber gewaltig springende Iren. The Rock hieß das Top-Pferd von Piero, von Raimondo erinnere ich eine ziemlich wilde Stute namens Gowran Girl, die wohl kein anderer hätte reiten können. Wegen ihres eleganten Stils bewunderten wir die US-Amerikaner, Bill Steinkraus, Frank Chapot oder George Morris – noch heute mit fast 80 Jahren als renommierter Trainer auf den großen Turnierplätze anzutreffen. Schon damals ritten erstklassige Frauen im US-Team, wie Kathy Kusner und Mary Mairs. Ihr Auftritt war wie aus einem Guss, sie wurden von dem früheren ungarischen Kavalleristen Bertalan de Nemethy trainiert. Oft saßen sie auf herrlichen großrahmigen amerikanischen Vollblütern, eine Sorte Pferd, die irgendwie aus dem Sport verschwunden ist. Einmal wahrscheinlich, weil die auf Kurzstrecken gezüchteten Vollblüter heute anders aussehen, und zum anderen, weil die auf Springbegabung gezüchteten Warmblüter mit den hohen Anforderungen an Beintechnik und Rittigkeit im heutigen Sport besser zurecht kommen.

Kreidetafeln und ahnungslose Richter

Eher gemütlich ging es am Dressurviereck zu. Es gab nur ein paar Holzbänke, sehr viel Zuschauer kamen ohnehin nicht. Die Noten wurden wie bei jedem Dorfturnier auf eine große Tafel mit Kreide geschrieben und man guckte dann gemeinsam mit den Vierecksgrößen jener Zeit, Josef Neckermann, Liselott Linsenhoff (erste deutsche Dressur-Olympiasiegerin und Mutter von Ann-Kathrin Linsenhoff), Reiner Klimke und Harry Boldt, was die Richter für Noten gezogen hatten. Schon damals wurde mehr oder weniger laut gemeutert, wenn die Herren am Richtertisch (Frauen gab es fast keine) mal wieder ahnungslos waren. Die morgendlichen Dressuren nannten sich übrigens „Vorprüfung“. Bei der „Hauptprüfung“ am Nachmittag im Hauptstadion zeigten die Reiter nach Anweisung des Chefrichters nochmal bestimmte Lektionen. Das klappte gut, ich kann mich nicht erinnern, dass ein Pferd total ausgeflippt wäre. Während ja heute schon eine simple Siegerehrung häufig im Chaos endet, weswegen die Reiter gerne andere Pferde für diesen Auftritt aus dem Stall ziehen. Ich kann mich aber erinnern, dass es sehr viel weniger Pferde gab, die wirklich gut piaffierten. Was Schönheit und Bewegungsqualität anbelangt, liegen Welten zwischen den Pferden von damals und heute. Da haben die Züchter Eindrucksvolles geleistet.

Fahren früher

Eine größere Rolle als heute spielte das Fahren. Es gab Prüfungen für Ein-, Zwei- und Vierspänner, sogar eine Klasse für Tandem – zwei Pferde voreinander – und Random – drei Pferde voreinander. Auch sie präsentierten sich vor der Siegerehrung auf dem großen Platz, ein einmaliges Bild.

Traditionen erhalten

Nach dem Großen Preis von Aachen war sie mal wieder vorbei, die schönste Woche des Jahres. Und damals wie heute winkten die Menschen Reitern und Pferden mit ihren weißen Taschentüchern ein letztes Mal zu beim Abschied der Nationen. Daran hat sich nichts geändert, welch ein Glück.Cheap Air Jordans 1 low For Sale | air jordan 1 cheapest colorways

Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.