Moment mal! Totale Kontrolle – wollen wir das?

Von
Moment mal_Gabriele Pochhammer

Gabriele Pochhammer, Herausgeberin St.GEORG (© Toffi)

Vielleicht kann bald jeder mit einer App auf seinem Handy überprüfen, ob die Reiter auf den Abreiteplätzen alles richtig machen. Noch steckt die App, die beim „CHIOAachen Campus Hackathon“, den ersten Preis gewann, in den Kinderschuhen. Ein Algorithmus hat anhand von Millionen Daten ein Bewegungsmuster von Pferd und Reiter entwickelt. Wer abweicht, fällt auf.

Gehören Sie auch zu den Leuten, die sich ohne Handy wie amputiert vorkommen, die, obwohl sie den Weg genau kennen, sich durchs Navi absichern und die sich erst gesund und fit fühlen, wenn ihnen die entsprechende App bestätigt, dass sie nicht nur 10.000 (oder 20.000) Schritte getan haben, sondern auch Atmung und Puls nichts zu wünschen übrig lassen? Apps sagen uns, wo wir billig tanken oder teuer einkaufen können, sie zeigen uns ungefragt die Route zu Restaurants oder Hotels, sagen uns, wie das Wetter wird und wo unser Hund ist. Und noch vieles mehr.

Und jetzt sagt uns eine App womöglich bald, ob unser Pferd lahm ist oder ob wir schief auf dem Pferd sitzen. Denn offenbar kann man nicht mehr davon ausgehen, dass dies der Reiter selbst merkt oder der Steward, der am Rande des Abreiteplatzes steht. Beim zweiten „CHIOAachen Campus Hackathon“, schon vom Namen her eine interessante Mischung aus Hackern und Marathon, haben sich junge Leute drei Tage und zwei Nächte lang Gedanken gemacht, um innovative Ideen rund um den Pferdesport im allgemeinen und den CHIO Aachen im Besonderen zu entwickeln. Den Sieg und 5000 Euro trug das Team CHIO Vision davon, das eine App zur „intelligenten Bewegungsüberwachung“ entwickelt hat. Sie schlägt Alarm , wenn das Pferd unklar geht, in der Rollkur gefangen ist oder sich auch sonst nicht so bewegt, wie es nach Ansicht der App sollte. Die Entwicklung der App bis zur praktischen Nutzung steht noch am Anfang, in den nächsten Wochen werden Gespräche mit dem CHIO Campus über die konkrete Umsetzung geführt.

App soll Pferdewohl verbessern

Ziel sei es, das Wohl des Pferdes zu verbessern, versichern die Erfinder, aber auch die Veranstalter des Jungdigitalisten-Treffens, der Campus CHIO. „So können wir die beim CHIO an den Trainingsplätzen eingesetzten Stewards mit intelligenter Technik bei ihrer Arbeit zum Wohle des Pferdes unterstützen“, sagt Stephanie Käs, Doktorandin, Teilchenphysikerin und Mitentwicklerin der App. Die „video-basierte Haltungskontrolle“ überprüft mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) die Bewegungsmuster, die eigentlich die zuständigen Fachleute – Stewards, Tierärzte, Richter und Reiter – mit Hilfe ihrer natürlichen Intelligenz bemerken sollten. Dass dies oft nicht geschieht, wissen wir, auch dass es nicht unbedingt am IQ liegt, wenn Pferde zusammengezogen oder zu unnatürlichen und damit tierschutzwidrigen Bewegungen gezwungen werden. Sondern an der Ignoranz und Gedankenlosigkeit der Reiter und am Wegschauen der Stewards. Die Kamera hingegen schaut nie weg.

Voraussetzung für die App ist also ein Kamera-überwachter Platz – Abreiteplatz, Trainingsplatz zu Hause, Reithalle. Diese Videoüberwachung ist inzwischen bei vielen großen Turnieren, unter anderem beim CHIO Aachen, Standard. Aber im Grunde spielt es keine Rolle, was für eine Kamera die Bewegungen aufzeichnet, eine Handy-Kamera, eine professionelle Filmkamera oder eben die Überwachungskamera. Neu wird sein, dass die Kamera die aufgezeichneten Daten mit in der App gespeicherten Daten vergleicht, die die „richtige“ Haltung beschreiben. Schon ist man falschen Bewegungsmustern auf der Spur. Das klingt erstmal verlockend und hat zweifellos viele Vorteile. Zum Beispiel kann sie helfen, eine diffuse Lahmheit, die auch für versierte Veterinäre manchmal schwer zu orten ist, zu diagnostizieren.

Sie kann auch die Ausbildung von Reitern, Richtern und Reitlehrern begleiten: So soll das Bewegungsmuster aussehen und so nicht. Die Kamera kann für die App natürlich auch auf Abreite- und Vorbereitungsplätzen Beweise sammeln und Diskussionen überflüssig machen, weil sie genau zeigt, wie lange ein Pferd in der oder jener Haltung geritten wurde, nicht nur eine „Momentaufnahme“ lang, wie gerne behauptet wird, sondern eine halbe Stunde. Insofern kann sie den Stewards, die ihre Augen nicht überall haben können, den Rücken stärken.

Die totale Überwachung gibt es längst

Die App garantiert die totale Kontrolle von Reiter und Pferd jederzeit und ich gebe zu, dass mir das ein bisschen Angst macht. So wie in China Big Brother merkt, wenn einer die Fußgängerampel bei Rot überquert und gleich mit Sanktionen winkt, wie nicht mehr Schnellzug fahren oder kein Studienplatz für den Nachwuchs. Ziemlich gruselig.

Wollen wir die totale Überwachung auch im Sport? Die gibt es längst. Viele werden jetzt auf die Eigenverantwortung der Reiter verweisen. Die hat allerdings in der Vergangenheit des öfteren zu wünschen übrig gelassen, das Vertrauen in diese Richtung hat über die Jahre arg gelitten. Wie sieht die praktische Umsetzung auf dem Turnier aus? Schlägt der Algorithmus jedes Mal laut Alarm, wenn die Pferdenase zu lange hinter die Senkrechte kommt? Solche Details wird man sehen, wenn die App auf den Markt kommt.

Wer hat überhaupt die Kriterien festgelegt, nach denen eine Haltung und eine Bewegung als „fehlerhaft“ oder „natürlich“ gilt? Schließlich ist jedes Pferd anatomisch anders und was bei dem einen noch „normal“ ist, muss es beim nächsten noch lange nicht sein. Mit einem Algorithmus werden Millionen Daten gesammelt und verglichen, um daraus eine „Norm“ herauszufiltern.

Und wer darf die App herunterladen? Nur die Fachleute – Stewards, Reiter, Richter, Trainer – oder jeder? Kann sich demnächst jeder Zuschauer und PETA-Abgesandte an den Abreiteplatz  stellen und per Handy überprüfen, wie pferdefreundlich dieser oder jener Star eigentlich reitet? Auch das ist noch ungewiss. Die Reiter werden damit leben müssen, ob sie wollen oder nicht. Die, die ihre Trainingsmethoden begründen können, weil auch sie nur das Beste für ihr Pferd wollen, brauchen vor der App keine Angst zu haben.

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Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

  1. berndride

    Das hat uns ja noch zu unserem Glück gefehlt. Dutzende wohlmeinende Zuschauer nehmen mit Apps die Reiter auf um Beschwerden bei Facebook zu veröffentlichen und den Richter auf dem Abreiteplatz mit App Analysen zu löchern. Dann brauchen wir nur noch eine Richter App und wir können die Platzierung mit Zuschauervotum machen.-
    Ich nehme mir dann aber ein Motorrad und bin dann mal weg. Viel Spaß!


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