Moment mal! Vielseitigkeit am Scheidewege – mal wieder?

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Moment mal! Die Kolumne von St.GEORG Herausgeberin Gabriele Pochhammer (© Foto Bugtrup/Montage: www.st-georg.de)

Es sind noch sechs Wochen bis zur Weltmeisterschaft der Vielseitigkeitsreiter in Pratoni del Vivaro. In Großbritannien, dem Mutterland des Querbeetreitens und der Heimat der hochfavorisierten WM-Equipe, wird derzeit heftig über die Sicherheit und „Social Licence“, also die Akzeptanz unseres Sports in der Gesellschaft, diskutiert. Pratonis Parcourschef Giuseppe della Chiesa sieht sich vor der Aufgabe, alles unter einen Hut zu bringen, Sicherheit, Spannung und die sportliche Herausforderung.

Losgetreten wurde die Diskussion nach dem Viersterne-Event in Bramham, als zwei Pferde eingeschläfert werden mussten und es einige schlechte Bilder gab, weil die Reiter den Anforderungen nicht gewachsen waren. Vorfälle wie der Unfall des vierbeinigen Weltmeisters Allstar in Aachen, (irreparabler Rotationsbruch des linken vorderen Krongelenks) werden sich zwar nie ganz verhindern lassen, hier lag kein Verschulden von irgendjemandem vor, aber die Diskussion wurde ebenso befeuert wie von dem Unfall des belgischen Pferdes Kai Licha de Carmel beim CSI2* in Kronenberg (Niederlande) Mitte Juni. Und das war wirklich ein Skandal!

Regeln falsch ausgelegt

Das Pferd hatte sich – ohne Sturz – das Hinterbein gebrochen, stand auf drei Beinen. Obwohl es offensichtlich große Schmerzen hatte, verbot die zuständige Tierärztin der Internationalen Reiterlichen Vereinigung (FEI), dem Pferd Beruhigungs- und Schmerzmittel zu geben, weil sie erst eine Dopingprobe nehmen wollte und dazu zurück zu ihrem Auto laufen musste, um das Equipment zu holen. Das Ganze dauerte ungefähr 25 Minuten, eine gefühlte Ewigkeit. Trotz mehrfacher Bitten der Reiterin Ann Carton wurde dem Pferd die schmerzlindernde Hilfe verweigert. Am Ende musste es aufgrund der schweren Verletzung eingeschläfert werden. Die Tierärztin hatte sich auf das Reglement berufen, das eine Dopingkontrolle bei Unfällen vorschreibt. Aber es gebe kein Verbot, dem Pferd deswegen die notwendige und leidenslindernde Behandlung zu zukommen zu lassen, stellt Dr. Friedrich Wilhelm Hanbücken klar, der in derselben Funktion in Aachen tätig war, und Allstar natürlich Schmerzmittel verabreicht hatte. „Hier wurden die Regeln falsch ausgelegt“, sagt Hanbücken. „Das ist eine Kann-Regel und bei einer späteren Doping-Analyse können eventuelle Medikationen unmittelbar nach der Verletzung berücksichtigt werden.“ Der Ehemann von Ann Carton wandte sich an den Weltreiterverband, der von einer „Missinterpretation“ der Regeln sprach. „Wir sind sehr besorgt über die Umstände, die zu unnötiger Verzögerung in der Anwendung von Schmerz- und Beruhigungsmitteln führten“, sagte eine FEI-Sprecherin. Solche Vorfälle sind ein Schlag ins Gesicht für jeden, der Pferde mag und sie nicht leiden sehen will.

Fünf Prozent stürzen im Gelände

Da bleibt dann die sachliche Diskussion um die Risiken des Vielseitigkeitssportes schnell auf der Strecke. Die FEI hat vor einiger Zeit eine „Management Risk Steering Group“ gegründet, die Risiken einschätzen und Vorschläge zur Abhilfe machen soll. Im Frühjahr legte sie 16 Statistiken aus den vergangenen elf Jahren (2010 bis 2021) mit Zahlen zu Starterfeldern, Stürzen von Reiter und/oder Pferd, Verletzungen je nach Prüfungsgrad vor, genau bis auf zwei Stellen hinter dem Komma und gefundenes Fressen für Zahlen-Freaks, einzusehen auf der FEI-Website. Ein paar Beispiele: Zwischen 2010 und 2021 gingen 217.000 Reiter auf eine Geländestrecke, mit steigender Tendenz (plus 22,5 Prozent innerhalb der letzten zehn Jahre). Rund fünf Prozent der Ritte, mal ein paar mehr, mal in paar weniger, endeten mit einem Sturz von Reiter und/oder Pferd, wobei der Reiter häufiger aus dem Sattel kam als das Pferd von den Beinen: Von 11.578 Stürzen in diesem Zeitraum fiel 8.396 mal der Reiter herunter, 3.182 Mal ging das Pferd zu Boden. Die meisten Stürze, auch prozentual, passieren in der höchsten Kategorie, in Fünfsterne-CCI, schwere Stürze am häufigsten bei den gefürchteten „Rotational Falls“, bei denen sich das Pferd überschlägt und auf den Reiter fällt, auch keine Überraschung. Obwohl insgesamt die Zahl der Stürze abnahm, nahm sie in CCI5* zu, zwischen 2014 und 2021 auf 12,6 Prozent (jeder achte Reiter).

„Reiten ist riskant. Punkt.“

Die Aufgabe der Risk Management Steering Group ist es natürlich, über Gegenmaßnahmen nachzudenken, um die Sicherheit zu erhöhen. Und da gehen, schon bevor die Arbeitsgruppe ihren Abschlussbericht vorgelegt hat, die Meinungen auseinander. Soll man die Anforderungen senken? „Das würde bedeuten, dass schwächere Reiter und Pferde auf die Strecke gehen, das Risiko ist eher höher“, sagt Reitmeister Martin Plewa, Bundestrainer der deutschen Goldmedaillenmannschaft 1988 in Seoul. Der fünffache Gewinner des CCI5* Burghley, der Neuseeländer Andrew Nicholson, ist noch rigoroser: „Reiten ist riskant. Punkt“, sagte er der britischen Pferdezeitschrift Horse and Hound.

Hohle Baumstämme

Auch der Parcoursdesigner der kommenden Weltmeisterschaft im italienischen Pratoni del Vivaro, Giuseppe della Chiesa, glaubt nicht an hundertprozentige Sicherheit. „Wenn man auf Nummer sicher gehen will, muss man sich vor den Fernseher setzen, aber nicht auf eine Geländestecke gehen,“ sagt er. Stattdessen plädiert er dafür, erkennbare Risiken zu minimieren. Das kann der Einsatz der MIM-Technik oder von Pins sein, bei denen Hindernisteile bei hartem Anschlagen abgeworfen werden und so ein Überschlagsturz verhindert werden kann. Inzwischen denkt MIM-Erfinder, Mats Björnetun, sogar über ausgehöhlte und deswegen leichtere Baumstämme nach, die schneller zu Boden gehen als die bisher üblichen kompakten Balken. Aber der Aufbau könne nicht alle Probleme lösen, sagt della Chiesa. Er sieht die Ursache vieler Stürze auch in den Trainingsmethoden. Er plädiert dafür, auch im Training breite Oxer zu üben, nicht nur Ecken und Sprünge mit „weicher“, also nachgebender Oberlinie. „Eventers werden oft nicht zum sauberen Springen über breite feste Hindernisse erzogen“, sagt er. Das sei auf kurze Sicht risikoärmer, aber man schaffe eine Generation von Pferden und Reitern, die nicht mehr gelernt haben, respekteinflößende feste Hindernisse zu überwinden. „Dann muss der Aufbauer die Kurse leichter machen und wo enden wir dann?“ fragt er. Leichtere Kurse sind in seinen Augen nicht unbedingt sicherer. Am Ende liegt es am Reiter und seinem Trainer, die eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen – vor dem Start. „Und man sollte den Reitern die Qualifikation für die nächsthöhere Klasse nicht zu einfach machen“, sagt Martin Plewa und verweist auf Prüfungen, die obwohl in derselben „Sternenklasse“ durchaus unterschiedliche Anforderungen stellen. Womit wir wieder am Anfang sind. Auch das FEI-Regelwerk, das mit seinen akribischen Paragrafen den Sport sicherer machen will, ist nur so gut, wie die Menschen, die es anwenden. Richtig anwenden, mit Augenmaß und Horsemanship. Das hätte man auch Kai Licha de Carmel gewünscht.

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Anmerkung der Redaktion, in einer früheren Version dieses Artikels hatte es fälschlicherweise geheißen, das Pferd Kai Licha de Carmel hätte sich bei einem CIC2* tödlich verletzt. Tatsächlich aber handelte es sich um das CSI2*, bei dem das Springpferd den irreparablen Bruch erlitt. Wir bitten, den Fehler, den wir korrigiert haben, zu entschuldigen.

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Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

  1. berndride

    Wenn eine Tierärztin sich weigert einem Pferd die Schmerzen zu erleichtern, bloss um ihr Dopingset zu holen, zeigt das, dass wir jeden Massstab verloren haben. Dopingtests sind leider notwenig, ok, aber sie dürfen doch nicht zu Lasten der ärztlichen Versorgung gehen. Es wird aber von den Verbänden ein riesiger Druck um das Thema Doping aufgebaut. Da ist es verständlich, wenn die Leute denken, das sei das Wichtigste überhaupt in der Situation. Es ist also nicht nur eine Tierärztin die offensichtlich weder durch Tierschutz noch durch gesundem Menschenverstand von einer fehlerhaften Regelauslegung abzubringen war. Es ist auch diese institutionelle Hysterie über Doping die den Tierärzten in den Trainings eingehämmert wird. Ich kann mich an ein solches Training erinnern. Der Fall, dass eine Schmerzbehandlung eventuell Vorrang haben könnte, war gar nicht thematisiert, aber es wurde sehr deutlich darauf hingewiesen wie wichtig Dopingproben bei Unfällen sind.


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