Dressur pervers aus ST.GEORG Juli/2005

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Kommt Dressur von Dressieren? Nein, zumindest nicht laut Lehrbuch. Doch der Dressursport verkommt. Viele Pferde bleiben auf der Strecke. Die, die im Viereck erscheinen, wirken häufig abgerichtet. Für die Prinzipien der klassischen Ausbildung interessiert sich kaum noch jemand. Am Rand von Abreiteplätzen und in Internetforen wird diskutiert. Die Richter aber sehen weg, konzentrieren sich lieber auf die Wahl vermeintlich glücklicher Athleten – Happy Athletes. Wenn gar nichts mehr geht, muss der Tierarzt ran. Eine ST.GEORG-Recherche…

Irgendwann ist das Schiff aus dem Ruder gelaufen. Wann genau, das weiß niemand so recht. Die Matrosen nicht und die Kapitäne auch nicht. Aber vielleicht wollen die es auch gar nicht sehen. Motto: Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff. Wie war das? „Das Dressurreiten beinhaltet die gymnastische Durchbildung und sorgsame Erziehung des Pferdes, um dessen natürliche Anlagen voll zu entwickeln, seine Leistungsfähigkeit zu erhöhen, seine Gesundheit zu erhalten und schließlich die Harmonie zwischen Reiter und Pferd zu erreichen.“ So steht es fettgedruckt auf Seite 9 der Richtlinien für Reiten und Fahren, Band II. Und weiter: „Keinesfalls darf der Reiter das Dressurreiten mit Abrichten verwechseln. Das Beibringen von ,Kunststücken‘ oder ,Tricks‘ ist nicht Zweck und Ziel der Dressurausbildung.“ Ist das, was auf Abreiteplätzen seinen Anfang nimmt und von den Richtern schließlich mit hohen Noten zum Ideal hochgepunktet wird, wirklich noch unter dem Begriff Harmonie zu fassen? Oder gleicht das Wochenende für Wochenende zu betrachtende Szenario nicht viel mehr einem Kampf Mensch contra Bestie? Viele Zuschauer holt das, was sie bei der Vorbereitung auf große Prüfungen geboten bekommen, auf den Boden der Tatsachen zurück. Zeigt die Kehrseite des Spitzensports das wahre Gesicht der Dressur? Wer mit offenen Ohren am Abreiteplatz steht, wird schon bald die Frage hören, wie das Training denn wohl zu Hause, sprich in nicht öffentlichen Situationen, vonstatten gehen mag.

Die Wege nach Rom

Spitzensport verlangt nach individuellen Konzepten, das wird niemand ernsthaft in Frage stellen wollen. Zeit für den Satz, dass viele Wege nach Rom führen. In Aachen gab es 2004 zwei Verwarnungen, keine offiziellen, versteht sich – Richter Christoph Hess sprach mit den Trainern: Die Art und Weise, wie Isabell Werth und Anky van Grunsven ihre Pferde vorbereiteten, waren dem Publikum und dann zwangsläufig dem herbeigerufenen, Aufsicht führenden Steward negativ aufgefallen. Ein Jahr zuvor hatten sich Zuschauer über Martin Schaudts Abreiten beschwert. Wie es weiter ging, weiß jeder: van Grunsven wurde mit Salinero wenige Wochen später Olympiasiegerin in Athen. Isabell Werth bekommt Satchmo seitdem nur phasenweise in den Griff und Schaudts Weltall quittierte in Athen in der Kür komplett den Dienst, kam dann aber in der Hallensaison wie Phoenix aus der Asche zurück und erhielt „Weltrekordpunkte“ im Grand Prix Special. Jeder Auftritt Weltalls wird seitdem mit Spannung verfolgt. Wie für nahezu jedes Spitzenpferd der vergangenen Jahre, den braven Arbeiter Gigolo mal ausgenommen, ist in diesem Zusammenhang von Genie und Wahnsinn die Rede. Der Geniebegriff muss zu Recht herhalten, wenn Weltalls Beine taktpräzise wie ein Metronom beim Klavierspiel seine wirklich grandiosen Momente in Passage und Piaffe herausarbeiten; der Wahnsinn, wenn es nicht gelingt, ein fehlerfreies Programm zu zeigen – und dabei geht es nur um die Basis der Ausbildungsskala, den Takt in den drei Grundgangarten. Ein Schicksal, das Weltall mit Satchmo teilt. Der geht zwar taktrein, aber nicht gehorsam. Isabell Werth verzichtete auf einen Start bei den deutschen Meisterschaften in Verden, nachdem ihre Zukunftshoffnung – die wieder auf dem aufstrebenden Ast zu sein schien – zuvor in Balve einmal mehr eine Prüfung schmiss. Und auch das Zukunftspferd, dem viele die ganz große Karriere voraussagen, Nadine Capellmanns Elvis, quittierte in Verden komplett den Dienst, sprang schon beim Abreiten wild in die Luft, anstatt zu piaffieren – Schuld war ein eingeklemmter Ischiasnerv, wie es ein paar Tage später hieß.

Tatort Abreiteplatz

Kaum ein Turnier ohne Diskussion. Das Publikum begehrt auf. In Las Vegas entrüsteten sich Zuschauer über die van Grunsven’schen Trainingsmethoden, und bearbeiteten den Aufsicht führenden Steward so lange, bis dieser die Olympiasiegerin ansprach. Für Mariette Withages, Vorsitzende des Dressurausschusses des Weltreiterverbandes (FEI), nur eine Randnotiz – „naja, sie hatten Salinero halt tief eingestellt, wie man das jetzt so macht“. Und weil die Richter nun einmal nur das bewerten, was im Viereck zu sehen ist, erhielt das Paar Rekordsummen in der Kür, sogar eine 10,0 vom deutschen Jurymitglied Uwe Mechlem für die Choreographie. Später telefonisch auf die Vorkommnisse beim Abreiten angesprochen, gab Mechlem das Unschuldslamm: „Ach, war das so?“ Die Richter erinnern manchmal an die drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Mund aufmachen könnte unbequem sein – schließlich trifft sich die Bussi-links-Bussi-rechts-Gesellschaft ja im Wochenturnus, und da möchte man doch schließlich gut Freund mit jedem sein.
„Wie man das jetzt so macht“– vielleicht ist das der Knackpunkt. Beobachtungen am Abreiteplatz bei der Weltmeisterschaft junger Dressurpferde: Fünf- und sechsjährige Pferde mit niederländischen Reitern werden auf ihren großen Auftritt vorbereitet. Parallele Bilder: Das Pferd beißt sich in die Brust. Der Reiter zieht bei extrem breiter Zügelführung, die Hände vor dem Bauch, den Kopf des Pferdes hin- und her. Dann hält er an. Wieder ziehen, ein schneller Stich mit dem Sporn, das Pferd trabt an. Keine drei Meter später wird wieder angehalten: Der Reiter streckt die Beine weg, lehnt sich mit aller Macht zurück. Wieder wird am Zügel hin- und hergezogen. Die Nase der Pferdes ist beinahe 45 Grad hinter der Senkrechten, der Hals aufgerollt. In dem Moment, in dem das Pferd zum Halten kommt, hat das Bein des Reiters auch schon wieder ausgeholt. Wieder der Sporn, wieder Halten, wieder hin- und herziehen.
Szenen wie diese sind keine Seltenheit. Und natürlich können auch deutsche Reiter Pferde viel zu eng und viel zu tief abreiten. Nur die Systematik, das konsequente „sich in die Brust beißen“ sieht man – noch? – nicht. In dieser Haltung wird dann auch piaffiert – kurz bevor es in die Dressurpferdeprüfung Klasse L geht, so machte es eine Schülerin von van Grunsven.
Der niederländische Bundestrainer Sjef Janssen ist schon häufig auf seine Methoden angesprochen worden. Immer wieder hat er in Interviews betont, dass das, was er als „lang und tief“ („laag en diep“) bezeichnet, pferdeschonend sei, dass seiner Meinung nach die klassische Ausbildung Pferde kaputt machen würde. Sein bestes Argument ist Bonfire, Olympiasieger von 2000, der mit seinen jetzt 23 Jahren noch quietschfidel sei. Und den Sjef Janssen, wie auf Anky van Grunsvens Homepage unlängst zu sehen, auch jetzt noch gelegentlich zum Piaffieren aus dem Stall nimmt. Extrem tief eingestellt, versteht sich. Das sieht aus wie die von Nicole Uphoff und Isabell Werth auf Basis ihres Trainings mit Dr. Uwe Schulten-Baumer perfektionierte Methode, die vom ST.GEORG einst als Rollkur gegeißelt wurde. Doch dagegen verwahrt sich Janssen. Dem australischen Horse Magazine sagte er, die Art, wie er trainiere, habe damit nichts zu tun. Seiner Meinung nach resultierten aus der Rollkur Anlehnungsprobleme.

„Happy Athlete“

Ein Enfant terrible war der langhaarige Niederländer schon immer; seine Fans führen nur zu gerne an, dass die Ablehnung seiner Trainingsmethoden vielleicht auch daraus resultiert, dass er anders ist als die Damen mit Perlenkette und die Herren mit Seidentuch im Sakko.
Man könne nur das beurteilen, was im Viereck passiert, bügelte Withages im ST.GEORG-Interview nach den Olympischen Spielen alle Vorbehalte gegen die Abreitemethoden vom Tisch. Für die Kontrolle seien die Stewards zuständig: „Ich stehe selten auf dem Abreiteplatz, wenn ich richte. Ich habe in dem Moment dort nichts zu suchen, finde ich.“ Allerdings müsse auch sie zugeben, „dass bestimmte Trainingsmethoden auch ein Fall für den Tierarzt sind“. Postwendend bekam der ST.GEORG eine e-mail von Sjef Janssen. Der hatte diesen Satz sofort als Kritik an seiner Trainingsphilosophie verstanden. Die Diskussion über ihre Methoden – die auch Musterschüler Edward Gal hocherfolgreich anwendet – ließe sie mittlerweile kalt, sagte die Olympiasiegerin in einem Interview der aktuellen Ausgabe des von der niederländischen Sportmarketing-Agentur BCM herausgegebenen Magazins Horse International. Schließlich seien alle ihre Schüler erfolgreich, Bonfire mit 17 Jahren auf dem Zenit seiner Leistung angelangt und ihre Pferde „happy“ und gesund. Sie lebten ein glückliches Leben und seien weder durch Sporen traktiert noch hätten sie blaue Zungen.
Zu den Stimmen, die in Las Vegas laut wurden, nahm Janssen im niederländischen Fachmagazin „In de Strengen“ Stellung. Sein Tenor: Unwissenheit (siehe Kasten S. 18). Und springt auch gleich in die Bresche für den „Kür-Erfinder“ Joep Bartels, auf dessen Global Dressage Forum Salinero im vergangenen Jahr zum „Happiest Athlete“ gekürt wurde. In diesem Jahr soll dort der tiermedizinische Beweis geführt werden, dass dieses Training nicht, wie von den meisten Tierärzten angeprangert, schädlich sei. Die Happy Athlete-Regelung hat den Franzosen Colonel Christian Carde auf den Plan gerufen. Auf der Homepage www.allege-ideal.com schreibt der O-Richter, wie unglücklich er den neu formulierten FEI Artikel 401 findet, ,mit dem der Begriff des „Happy Athlete“ ins offizielle Reglement des Weltreiterverbandes eingeführt wurde. Er nimmt auch Bezug auf die „lang-und-tief-Trainingsbilder“. Seine Frage: Warum laufen die Vertreter dieser Trainingsmethode Sturm gegen etwas, was sie selbst doch als ideal verstehen? Wenn es sich um eine missverstandene Methode handelt, warum erklärt man sie dann nicht plausibel?
Carde fordert nicht nur eine offene Diskussion, sondern eine Expertenkommission mit Trainern, Tierärzten und Ethologen (Verhaltensforscher). Gleichzeitig stellt er in Frage, ob eine solche Kommission couragiert genug wäre, den daraus entstehende „Tsunami des Widerspruchs“ wirklich in Gang zu bringen.
Kopfschütteln bei einem, der sich mit Vehemenz für die klassische Reitweise ausspricht: Olympiasieger Klaus Balkenhol, Trainer der US-amerikanischen Dressurmannschaft. Dessen überdrüssig, was er manchmal auf Abreiteplätzen erlebt, denkt er laut darüber nach, inwiefern eine Note fürs Abreiten vor einer Prüfung nicht sinnvoll wäre. Ein weit reichender Vorstoß, von vielen belächelt. Was, wenn eine solche Wertung bei besagten Meisterschaften in Nijmegen, bei denen van Grunsven öffentlich von 90-Prozent-Wertungen träumte, stattgefunden hätte? Indirekt gibt es diese Wertung und das Votum in den Internetforen fällt schlecht aus, denn diese Bilder sind jetzt um die Welt gegangen. Eine Dressurreiterin aus Schweden hatte die Bilder zugespielt bekommen und sie auf ihrer Homepage „Dressage for the 3rd Millenium“ im Internet veröffentlicht. Alle Pferde gehen hinter der Senkrechten, wobei diese Formulierung fast noch untertrieben ist. Dem ST.GEORG liegen diese Bilder ebenfalls vor. In den Niederlanden ist mittlerweile eine wahre Hexenjagd ausgebrochen, mit dem Ziel, herauszubekommen, von wem diese Bilder stammen.
Tierarzt Dr. Gerd Heuschmann, der seit einigen Jahren mit seinem Vortrag über funktionale Anatomie Fragen zur heutigen Trainingspraxis aufwirft, die nicht nur aus seiner Sicht längst überfällig sind, ist fassungslos. Schnell hat der praktizierende Tierarzt, der vor seinem veterinärmedizinischen Studium bei der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) als Ausbildungsreferent tätig war, die Leitlinie „Tierschutz im Pferdesport“ des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Verbraucherschutz zur Hand: Schmerzen und Schäden, ausgelöst von Spannung und zu starker Beizäumung, ist tierschutzwidrig (siehe Kasten Seite 15). Und natürlich ist da auch noch das deutsche Tierschutzgesetz, Paragraph 3, 1b: „Es ist verboten, an einem Tier im Training oder bei sportlichen Wettkämpfen oder ähnlichen Veranstaltungen Maßnahmen, die mit erheblichen Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind und die die Leistungsfähigkeit von Tieren beeinflussen können, anzuwenden.“

Marionetten-Passagen
„Bei uns macht das jedes kleine Dressurmädchen“ – die Arbeit mit Schuhen ist in den Niederlanden gang und gäbe. Dem Pferd werden beim Longieren oder Reiten Lederschlaufen um die Füße geschnallt, an denen auf Höhe des Ballens ein großer Ring befestigt ist. Von diesem Ring führt eine Lederschnur durch eine Schlaufe am Gurt zwischen den Vorderbeinen des Pferdes in die Hand des Longierenden. Winkelt das Pferd beim Traben den Oberarm an, wird an dem Band gezogen. Das Ergebnis dieser Trainingsmethode ist frappierend. Gerade noch trabt ein Pferd mit „normalem“ Trab um einen herum, Minuten später schwebt ein Dressurknaller mit der „allerbesten“ Kadenz auf dem Zirkel. Wie stark diese Schuhe den Bewegungsablauf verändern, kann man sich kaum vorstellen. Man muss es gesehen haben. Beim zweiten Blick fallen einige Details auf: Egal, welchen natürlichen Trabablauf die Pferde von Hause aus haben – flacher Schlittschuhläufer, oder rollende Knieaktion – sie „passagieren“ alle gleich: Der Oberarm ist extrem hochgezogen, teilweise sogar über die Waagerechte, die Spitzen der Hufe – auf die mit den Schuhen die meiste Kraft einwirkt zeigen auffällig stark zum Buggelenk. Bilder, wie man sie von einigen internationalen Spitzenpferden kennt. Auch von Hengsten, deren Nachkommen dann seltsamerweise deutlich weniger „Tritt und Schwups“ als ihre Erzeuger aufweisen. Als holländische Friesentrainer diese Methode in Schweden öffentlich propagierten, kam Unmut auf. Ein Jahr später waren die Trainer wieder da. Diesmal waren Inspektoren der schwedischen Landwirtschaftsbehörde zugegen, die die Methode als nicht mit dem schwedischen Tierschutzgesetz konform gehend unterbanden.

„Wird ein Pferd durch Hilfszügel, z. B. Schlaufzügel oder durch Zügelhilfen, häufig oder länger anhaltend in Spannung versetzt oder zu stark beigezäumt, so können erhebliche Schmerzen oder Schäden entstehen. Ein derartiger Gebrauch von Führungshilfen ist tierschutzwidrig.“
Aus der „Richtlinie Tierschutz im Pferdesport“, Bundesministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Beulen im Genick

Das Dilemma: Ein internationales, oder zumindest EU-weit gültiges Tierschutzgesetz gibt es noch nicht. Und die FEI gibt sich in ihrem Verhaltenskodex zum Wohlergehen des Pferdes, dem sich jeder Reiter bei der Nennung eines internationalen Championats unterwirft, recht allgemein: Das Wohlergehen müsse immer an erster Stelle stehen, dies gelte beispielsweise für die Trainingsmethoden.
Apropos – in Holland weit verbreitet ist das Training mit Schuhen, das ursprünglich aus dem Fahrsport, von Hackneys, Tuigpaarden und Friesen kommt (siehe Seite 15, ST.GEORG 08/2005). Verschleiß ist bei dieser Technik, mit der man wohl auch eine Kuh zum dauerpassagierenden Wundertier abrichten könnte, programmiert.
Doch auch ohne Marionettenschnüre hat das schlechte Reiten nicht nur den Spitzensport erfasst. In den tierärztlichen Praxen sieht Heuschmann Tag für Tag, welche krankhaften Veränderungen Reiten in permanenter, extremer Beizäumung hervorruft. Die gesamte so genannte obere Verspannung (Nacken-Rückenband, Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule bis zum Iliosacralgelenk) inklusive Rumpf wird in Mitleidenschaft gezogen. Es entstehen entzündliche Prozesse, die später zu Verkalkungen führen können. Regelrechte Beulen bilden sich aus, mitunter groß wie Kinderfäuste. Das Ganze ist fürs Pferd schmerzhaft und kann zu dauernder Unbrauchbarkeit führen. Solche Krankheitsbilder haben in letzter Zeit zugenommen. Den Verfechtern der These, dass Pferde durchlässiger würden, wenn man sie mit starker Abstellung reitet, was nichts anderes als „Stretching“ darstelle, hält Heuschmann entgegen, dass sie sich noch nie wirklich damit beschäftigt hätten, welche Muskelgruppen des Pferdes das Reitergewicht tragen. Das seien nämlich vielmehr die Bauchmuskeln, als der lange Rückenmuskel. Auch ST.GEORG-Experte Dr. Karl Blobel bescheinigt den Dressurreitern „wenig Ahnung“ in Bezug auf die physiologischen Zusammenhänge. Dressur sei mittlerweile der „gesundheitsproblematischste Sport“, weil die Pferde keine freie Bewegung bekämen. Aus Angst vor Verletzungen würde das Pferd nach stundenlangem Stehen in der Box zum Training herausgenommen und sofort einem Zwang ausgesetzt. Blobel erinnert daran, dass nicht nur alle Muskeln, Bänder und Sehnen, sondern auch der Verdauungsapparat in Schwung gebracht werden müsse. Das bliebe bei den Trainingsmethoden, die mehr auf Unterordnung denn auf Zusammenarbeit abzielten, eigentlich immer auf der Strecke.
Und was, wenn alles zu spät ist? Wenn das Nackenband entzündet ist, dann kann der Tierarzt helfen. Er nimmt einfach Teile des Ärgernisses heraus. Nach einem Jahr soll das Pferd wieder einsatzfähig sein.
Dr. Blobel rümpft die Nase. „Die Diagnostik im Halswirbelbereich ist schwierig, selbst Experten kommen bei der Interpretation von Röntgenbildern zu komplett unterschiedlichen Ergebnissen. Außerdem wissen wir noch nicht genau, inwiefern die anatomischen Veränderungen die Leistung des Pferdes wirklich beeinflussen.“ Dass der Ehrgeiz der Tierärzte hierbei auch eine Rolle spielt, ist ein weiterer Aspekt: „Jeder Tierarzt, jede Tierklinik ist natürlich versucht, neue Therapieformen anzubieten für die immer neuen Probleme, die auftauchen. Aber ein großer Teil der neuen Therapien hat meines Erachtens nach nicht zum Erfolg geführt“. Blobel bleibt bei seinem Fazit: „Dressurreiter müssen mental umlernen, müssen den Pferden die freie Bewegung zugestehen, dann bleiben diese auch gesund. Die Reiter müssen sich informieren, was sich während des Trainings im und am Pferd ereignet. Sie müssen die Trainingsphysiologie eines Pferdes kennen lernen.“
Heuschmann verfolgt noch einen zweiten Ansatzpunkt: Back to the roots. Es sei die Überforderung der drei- bis vierjährigen Pferde, deren „industrielle Vermarktung“ dem frühen Verschleiß Tür und Tor öffnen. „Es wird viel zu früh versucht, zu versammeln. Erst ein Pferd, das lange genug vorwärts-abwärts gearbeitet worden ist, hat die Chance, genug Kraft zu entwickeln. Der sensibelste Gradmesser für den richtigen Ausbildungsweg ist der Erhalt und die Verbesserung der natürlichen Grundgangarten. Bei vielen Vier- und Fünfjährigen sind Schritt und Trab bereits in der Fußfolge gestört. “

Drohung per e-mail

Nachdem in Internetforen die Bilder von den niederländischen Meisterschaften emotional diskutiert wurden, erhielt die Herausgeberin der Homepage „Dressage for the 3rd Millenium“ eine e-mail von Sjef Janssen. Er drohte mit rechtlichen Schritten, da die Persönlichkeitsrechte von Anky van Grunsven verletzt worden seien. Außerdem vertrat er die Meinung, die Schwedin habe keine Ahnung. Seine Reitprinzipien seien gut für die muskuläre Entwicklung des Pferdes. Die Veröffentlichung der Abreitebilder sei unehrlich und manipulativ. „Our horses love to work for us“. Außerdem solle sie einmal die Springreiter beim Training beobachten – da gebe es eine Menge Parallelen. Dann droht er mit seinem Anwalt. Viel Aufwand – bedenkt man, dass Janssen ja nicht müde wird zu propagieren, dass seine Methode pferdeschonend sei. Warum darf man sie dann nicht abbilden, wenn sie die Pferde doch so glücklich macht?
Solche e-mails verschickt Sjef Janssen häufiger. Auch die Amerikanerin Kyra Beth Houston erhielt im November 2004 ein elektronisches Schreiben. Diesmal wegen Videoaufnahmen, die die Amerikanerin in Aachen gemacht hatte. Seit 2001 hat sie einen Vertrag mit dem Aachen-Laurensberger Rennverein (ALRV). In den USA, Südafrika, Neuseeland, kurzum bei Dressurenthusiasten außerhalb Europas, sind die Videos Kult. Sie bilden die Ritte ab aus der Position des Chefrichters bei C, inklusive der vergebenen Noten. Das Feedback ist groß, sagt Beth Houston: „Wie sieht eine 9 aus? Diese Frage bekommen sie beantwortet und das lieben die Leute“, auch auf Richterseminaren. Und natürlich kann man dann sehen, dass beispielsweise ein Pferd, das bei Grußaufstellungen kaum eine Sekunde still steht, durchaus Höchstnoten bekommen. Damit soll jetzt Schluss ein. Kyra Beth Houston bekam zu lesen, sie verletze Anky van Grunsvens Persönlichkeitsrechte. Sie dürfe die Videos nicht vertreiben. Die Amerikanerin wendete sich an den ALRV, der reagierte lange Zeit nicht. Ein halbes Jahr später schickten die Aachener einen neuen Vertrag mit der Aufforderung, eine schriftliche Einverständniserklärung von jedem gefilmten Reiter vorzulegen. Allerdings sind die Persönlichkeitsrechte von Spitzensportlern bei öffentlichen Auftritten per Gesetz eingeschränkt. Für den Hamburger Medienanwalt Dr. Rainer Stelling ist die Sache klar: „Zwar muss jeder Mensch einwilligen, bevor sein Bild veröffentlicht wird. Es gibt aber Ausnahmen: Wenn jemand eine ,relative Person der Zeitgeschichte‘ ist, bedarf es dieser Einwilligung nicht. Das gilt auch für Spitzensportler, zumal wenn sie sich in dem Umfeld bewegen, das sie zu Personen der Zeitgeschichte macht, also bei der öffentlichen Ausübung ihrer Sportart. Das gilt natürlich nicht für eine werbliche Ausnutzung.“
Das hat sich inzwischen auch zu den CHIO-Organisatoren herumgesprochen, die im übrigen mittlerweile van Grunsven und Salinero für das dem CHIO vorgeschaltete Wochenende als Stargast verpflichtet haben.
Turnierleiter Frank Kempermann auf Anfrage des ST. GEORG: „In der Ausschreibung steht, dass wir als Veranstalter die Filmrechte (Videorechte) haben und verkaufen können. Das müssen die Reiter mit der Ausschreibung akzeptieren.“ Also braucht  Kyra Beth Houston keine Erlaubnisunterschriften einzuholen, von einem Filmverbot für 2005 ist nicht mehr die Rede. „Tatsächlich hat sie einen Zweijahresvertrag.“ Filmaufnahmen vom Abreiteplatz sind darin nicht enthalten, aber das Recht, dort einmal vorbeizuschauen, hat jeder Zuschauer. Und das sollte er sich auch nicht nehmen lassen.

„Promi-Richten“

Das Problem der tierquälerischen Trainingsmethoden in der Dressur ist auch ein Problem des Richtens. Wo sind die Richter, die erkennen können oder wollen, ob ein Pferd korrekt ausgebildet wurde oder mit Hilfe von allen möglichen dubiosen Hilfsmitteln zu den spektakulären Bewegungen getriezt wurde? „Viele Richter haben Schwierigkeiten zu sehen, ob ein Pferd überhaupt reell von hinten durchschwingt oder nur vorne strampelt und hinten nichts mehr kommt“, so ein Grand Prix-Richter zu ST. GEORG. Dem soll jetzt ein Kompendium abhelfen, in dem genau erklärt wird, für welche Lektionsausführung welche Note zu vergeben ist. Damit auch Richter von fernen Stränden, die vielleicht einmal im Jahr eine große Prüfung richten, nur auf die Liste zu gucken brauchen. Ersatzweise auf die große Tafel, wo die Noten für die einzelnen Lektionen schon während der Prüfung gut sichtbar gezeigt werden.
„Für das Publikum ist das o.k., aber wenn die Richter sehen können, dass sie mit ihren Noten von den Kollegen abweichen, gleichen sie sie bei der nächsten Lektion garantiert wieder an“ , so besagter  Grand Prix-Richter zu ST. GEORG. Und das kann kaum Sinn der Sache sein. Auf großen Plätzen wie Aachen sind die elektronischen Tafeln deswegen so angebracht, dass sie vom Richterhäuschen nicht eingesehen werden können.
Dressurrichten ist ein undankbarer Job: Glücklich ist meist nur der Sieger. Und da Richterurteile bis zu einem gewissen Grad Ermessenssache sind, kann im Anschluss an die Platzierung noch ewig darüber diskutiert werden. Das hat sich seit der Einführung der Kür noch gesteigert. Durch Noten für so geschmäcklerische Bereiche wie ein schöne Chereographie oder die passende Musik werden die Urteile notgedrungen noch subjektiver.
Der Veranstalter, der den Richter einlädt, ist am glücklichsten, wenn der Sieger auch der Star ist, den er für sein Turnier hat gewinnen können und mit dem er kräftig Werbung gemacht hat. Der kommt dann im nächsten Jahr gerne wieder. Richter hingegen kann man austauschen, man lädt sie einfach nicht mehr ein, wenn sie zu viele unpopuläre Entscheidungen treffen. Dabei kommt es nicht darauf an, wie richtig oder falsch diese Urteile sein mögen. Die meisten Richter, ob sie es zugeben oder nicht, haben diesen Mechanismus verinnerlicht und die Schere im Kopf etabliert. „Es gibt drei Arten zu Richten: gemeinsames Richten, getrenntes Richten und Promi-Richten“, heißt es unter der Hand. Und gerade bei den VIPs im Sattel wird die Frage nach den Methoden, mit denen Pferde für ihre spektakuläre Vorführung getrimmt werden, am liebsten gar nicht erst gestelllt.

Im Zwangsstand Piaffier-Lektionen
Die Bielefelder Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Pferdewirtschaftsmeister Bernd G. und Jürgen H., die auf einem Reiterhof in Jöllenbeck zusammen mit Trainer Jan T. einen Verkaufs- und Ausbildungsstall für Dressurpferde betreiben. Wie die Bielefelder Neue Westfälische berichtet, sollen sie mit rüden Trainingsmethoden in einem selbst gebauten Zwangsstall versucht haben, einem Pferd das Piaffieren auf hartem Boden beizubringen. Das Pferd stürzte und soll sich nicht unerheblich verletzt haben. Die Peitsche, mit der das Pferd blutig geschlagen worden sein soll, wurde inzwischen sichergestellt. Ein Augenzeuge erstattete anonym Anzeige.

„Keinesfalls darf der Reiter das Dressurreiten mit Abrichten verwechseln. Das Beibringen von ,Kunststücken‘ oder ,Tricks‘ ist nicht Zweck und Ziel der Dressurausbildung. Die Kriterien der Ausbildungsskala sind stets zu berücksichtigen.“
Richtlinien für Reiten und Fahren Band II

Reaktionen in anderen Medien: „Prüdes Amerika“
Ihr Unwesen trieb die „Anti-lang-und-tief-Liga“ auch in Las Vegas, der Stadt der Sünde. Joep Bartels wurde mit Kritik überhäuft, „weil das Global Dressage Forum allein deswegen eingerichtet sei, um die verderbliche Trainingsmethode von Sjef und Anky zu verteidigen“. Teamchef Sjef Janssen musste im Aufwärmzelt nach dem Rechten sehen, weil ein Steward sehr kritische Anmerkungen zur Trainingsweise von Anky und Edward machte. „Ich weiß nicht, was in das prüde Amerika gefahren ist. Ich habe gesagt, dass wir die Pferde so tief einstellen, wie wir wollen. Ich bin keine 11.000 Kilometer geflogen, um unsere Trainingsmethode, die wir in zehn Jahren Suche nach dem Richtigen entwickelt haben, über den Haufen werfen zu lassen. Das nach unten und über den Rücken Reiten, der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung – das hat alles nichts mit Tierquälerei zu tun, wie das hier behauptet wird. Ich schlage vor, man sollte einmal mit einem Tierarzt über die Wirkungen sprechen. Es ist schade, dass so viele Unwissende unser Training in Misskredit bringen. Ich hatte gehofft, dass dies endlich zu Ende sei, nachdem wir zum zweiten Mal einen Olympiasieger hervorgebracht haben“, sagte Sjef.
aus: In de Strengen, April 2005, Übersetzung Jörg Savelsberg

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