Der Jugend gehört das Derby

Von
Moment mal_Gabriele Pochhammer

Gabriele Pochhammer, Herausgeberin St.GEORG (© Toffi)

Was war das für ein spannendes Finale am Sonntag im Derby-Park von Hamburg! Und es hatte einen strahlenden Sieger, mit dem Gabriele Pochhammer sich näher beschäftigt hat.

„Aaaalter“, rief Marvin Jüngel seinen Kumpels zu, als er nach seinem Derby-Sieg zum Abreiteplatz zurückritt, selbst noch ein bisschen baff über das, was er da gerade zustande gebracht hatte. Das hätte Nelson Pessoa nach seinem siebten Sieg 1996 vielleicht ein bisschen anders ausgedrückt; aber da war er fast 60 und Marvin Jüngel noch gar nicht geboren. Irgendwie lag der schon richtig: Reitsport kennt kein Alter, nicht nach unten, nicht nach oben, nicht bei Menschen, nicht bei Pferden.

Nelson Pessoa war 26 Jahre alt, als er sein erstes Derby gewann, in diesem Jahr zeigten zwei 21-Jährige, Sieger Malvin Jüngel auf der Oldenburger Stute Balou’s Erbin und die Zweite, die Dänin Caroline Rehoff Pedersen auf dem Holsteiner Calvin, mit den Nullfehlerritten Nummer 160 und 161, wie das geht mit Wall und Pulvermanns Grab. Der 20-jährige Kolibri-Sohn Kokolores von Jan Peters (Siebter mit vier Fehlern) bewies wiederum, dass auch ein Pferd noch nicht zum alten Eisen gehören muss, wenn es entsprechend trainiert wird.

Global Tour? Es geht auch ohne!

Es war ein fantastisches Derby-Wochenende. Dazu gehörten auch die Siege von Mario Stevens auf Starissa im Championat und von Gerrit Nieberg mit Ben im Großen Preis. Das ging ganz ohne Global Champions Tour, die irgendwie niemand vermisste. So durften wir Journalisten bei den Pressekonferenzen mit unseren deutschen Reitern deutsch reden. Das ist nämlich hierzulande die Sprache der Eingeborenen, was bei den PKs der Global Tour nicht gerne gehört wird.

Am Sonntag kamen knapp 30.000 Zuschauer. Auf den Stehplätzen musste um eine kleine Sichtlücke gerungen und geschubst werden. Was zeigt, dass es den Zuschauern ziemlich egal ist, wo die Akteure auf der Weltrangliste stehen, (Jüngel auf Platz 1216) wenn sie in den Derby-Parcours galoppieren. 98.000 Menschen pilgerten insgesamt an allen Tagen nach Klein-Flottbek, fürs nächste Jahr visiert Turnierchef Volker Wulff die 100.000 an.

Vorsicht, Schranke!

Das Derby hat seine eigenen Gesetze. Vergangene Grand Prix-Lorbeeren helfen herzlich wenig, wenn man oben auf dem Wall steht und das Pferd indigniert in die Tiefe starrt. Auf dem Wall gab es übrigens in diesem Jahr relativ wenig Probleme. Und die meisten Fehler wurden nicht an der berüchtigten weißen Planke am Fuß des Walles gemacht, sondern an den Eisenbahnschranken auf der gegenüberliegenden Seite. Das sind zwei Steilsprünge, bestehend aus je einer einsamen, 1,50 Meter bzw. 1,52 Meter hoch in der Luft hängenden Stange. Die sehen auch für Nichtspringreiter ziemlich eklig aus. Die beiden Youngsters von Platz eins und zwei meisterten die Klippen gleich viermal, zweimal im Umlauf, zweimal im Stechen.

„Ist doch toll, dass wieder junge Leute nachwachsen“, freute sich Bundestrainer Otto Becker und war kein bisschen überrascht. „Ich hatte den Marvin schon lange auf dem Schirm“, sagt er. Die erste Nationenpreisberufung war schon vor dem Derby geplant, in Bratislava beim Dreisterne-CSIO im Juni, die Serie für Nachwuchstalente, ins Leben gerufen von der Europäischen Pferdesportfederation (EEF) und ein beliebtes Sprungbrett für höhere Aufgaben. „Diesmal ist er noch als Reservist dabei“, sagt Becker.

Aber das muss ja nicht so bleiben. Auch Aachen ruft, Jüngel ist für das Finale U25 Springpokal in der Soers qualifiziert.

Wer ist eigentlich Marvin Jüngel?

Aber erstmal genoss er seinen Triumph in Hamburg: Quer über die Brust das blaue Band, der Lorbeerkranz um dem Hals des Pferdes, 30.000 Hamburger auf vollgepackten Tribünen als jubelnde Kulisse – fünf Ehrenrunden gönnte er sich und ist überzeugt, die 14-jährige Balou’s Erbin hätte gerne noch zehn Runden draufgelegt, so frisch habe sie sich angefühlt.

Nach Überwinden des letzten der 17 Hindernisse, der roten Backsteinmauer (deren „Backsteine“ freilich aus Holz bestehen), drehte Jüngel sich nochmal um, als wollte er ganz sicher gehen. Es hatte laut geklappert, die Mauer zitterte und ein Stein schob sich raus, entschloss sich aber doch, liegen zu bleiben. Dort blieb er als Beweis: Ein bisschen Glück gehört auch dazu. Zu dem Zeitpunkt war Sonja Jüngel, Marvins Mutter und die Besitzerin von Balou‘s Erbin, kurzfristig abgetaucht. „Sie hat sich zurückgezogen und versucht wohl, das alles zu realisieren“, sagt ihr Sohn. „Morgen ist Muttis Geburtstag und ich denke, wir werden schön reinfeiern.“

Jetzt steht Jüngel in der Derby-Chronik neben den ganz Großen des Springsports. Selbst wenn ein Derby-Sieg heute nicht mehr automatisch die Eintrittspforte für eine internationale Karriere ist, so haben doch fast alle Topreiter versucht, einmal das Blaue Band zu gewinnen. Vielen ist es gelungen, dem heutigen Luxuspferdehändler Paul Schockemöhle trotz ungezählter Versuche nie. Nur dessen Bruder Alwin war bei seinem ersten Derbysieg 1957 mit Bachus noch jünger als Jüngel, 19 Jahre. Fast 20 Jahre später war er Olympiasieger, ein passendes Fernziel für seinen jungen Nachfolger.

Ob sich Marvin Jüngel Olympiaträumen hingibt, sei dahingestellt. Sein bisheriger Lebensweg deutet eher auf Vernunft und Pragmatismus. Die Eltern besaßen im sächsischen Kramenz einen Stall mit ein paar Pferden, der Sohn hatte Spaß am Reiten und so stellten sie ihn Philipp Schober vor, nicht nur in Sachsen als erfolgreicher Springreiter und Trainer bekannt. Er erinnert sich gut an den schmächtigen Elfjährigen. „Er war ganz klein, aber ich hab schon beim ersten Mal gesehen, dass er Talent hat“, sagt Schober einen Tag nach dem Triumph seines Schülers in Hamburg. Noch heute berät sich Jüngel hin und wieder mit seinem einstigen Mentor.

Nach der Schule absolvierte er zunächst eine Ausbildung zum Bürokaufmann. („Ich dachte, das ist ja auch für das Pferdegeschäft ganz wichtig“), gleich danach machte er sich mit einem eigenen Betrieb selbstständig. Er bildet Springpferde aller Altersklassen aus, gibt Reitunterricht, kauft und verkauft Pferde. Jetzt soll die Reitanlage vergrößert werden, mehr Boxen, mehr Pferde, mehr Kunden – es läuft.

Seine Auftritte bei Vier- und Fünf-Sterne-Turnieren kann man an einer Hand abzählen, öfter sieht man ihn auf ländlichen Turnieren in Springen von A bis S. Das Schwarzbrot des reitenden Pferdehändlers sozusagen. So einer wird die Bodenhaftung nicht so schnell verlieren, auch wenn er zwischendurch mal abhebt.

Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

  1. F.v.Elrfeldt

    Sehr geehrter Herr Tennis. Ihren Nachruf zum Tode vom Kaiser Johansmann habe ich mit Verwunderung gelesen. Mich wundert dass die FN zu ihren Angaben zu Gustav Menke nicht gleich den Finger erhoben hat. Ersatzmann bei den Springreiter Olympia 1936 passt nun gar nicht. Und auch sonst sind noch andere Fehler in dem Nachruf enthalten. Gruß F.v.Elverfeldt


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