Schöne neue Welt: Wenn KI das Richterhäuschen übernimmt

Von
Moment mal_Gabriele Pochhammer

Gabriele Pochhammer, Herausgeberin St.GEORG (© Toffi)

Schon heute ist die Künstliche Intelligenz (KI) nicht aus dem Dressursport weg zu denken. Sie kann Tritte zählen, Pirouettekreise ausmessen, sie kann Richternoten blitzschnell in einen zentralen Rechner schicken und noch viel mehr. Traum oder Albtraum?

Heute las ich wieder in der Zeitung, wie die Künstliche Intelligenz, kurz KI, in Zukunft unser Leben verändern und Ungeahntes zustande bringen wird. Das reicht von Beethovens Zehnter über eine Picasso-Neuschöpfung bis zu Thomas-Mann-liken Texten. Kein Bereich wird davon unberührt bleiben, nicht der Sport und natürlich auch nicht der Pferdesport. Es wird Sie nicht wundern, wenn ich sage, dass im Dressurviereck längst die KI Einzug gehalten hat. Und zwar nicht erst seit gestern.

Viele Dressurfans kennen inzwischen die App „Spectator Judging“. Sie gibt es schon etliche Jahre, man kann sie sich kostenlos herunterladen und selbst bei jedem Ritt Noten vergeben, entweder für jede einzelne Lektion oder für die Vorstellung insgesamt. Ich nutze die App regelmäßig, weniger um mitzurichten, sondern um mich über den aktuellen Stand der Ergebnisse zu informieren. Das geht mit der App schneller als mit jeder anderen Online-Liste.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig sich die Benotungen und die Rangfolge von Richtern und Zuschauern unterscheiden. Manchmal finde ich, die Zuschauer habe es besser getroffen.

Dressurreitender Informatiker mit visionären Ideen

Hinter dieser App und hinter anderen elektronischen Werkzeugen, die im Dressursport Einzug gehalten haben, steht Daniel Göhlen mit der Firma Black Horse One, sesshaft in Vaterstetten bei München. Selbst aktiver Dressurreiter hat er schon als Informatik-Student die Möglichkeiten entdeckt, seinen Sport publikumsfreundlicher, für die Reiter und Richter transparenter und für Veranstalter kostensparender zu gestalten.

Dafür hat er das Programm „eDressage“ entwickelt, das es den Richtern erlaubt, ihre Noten direkt ins Tablet zu diktieren, dazu braucht es nur noch eine Hilfsperson, nicht mehr zwei. Die Noten werden per Klick ins Turnier-Rechenzentrum übermittelt und rund 30 Sekunden später bekannt gegeben, noch bevor der nächste Reiter ins Viereck galoppiert.

Es müssen keine Zettel hin und her getragen werden, auch das Nachzählen per Hand entfällt. Die Reiter bekommen ihre Protokolle per Email aufs Handy oder rufen sie auf dem Dashboard ab. Keiner muss mehr in einem Papierstapel in der Meldestelle wühlen oder befürchten, dass unerwünschte Blicke die richterlichen Kommentare lesen. Es braucht nicht mehr so viele ehrenamtliche Helfer, die ohnehin immer knapper werden, oder bezahlte Kräfte, das spart dem Veranstalter Geld.

Revolution im Kür-Richten

Mit einem weiteren Projekt hat Göhlen die Kür revolutioniert, zumindest für die Richter. Da die Reiter heute ihr detailliertes Programm inklusive Musik online abgeben müssen, können sich die Richter auf die Ausführung der Lektionen, auf die Musik und den künstlerischen Wert der Kür konzentrieren und müssen nicht zugleich auch die Pflicht-Lektionen abhaken und den Schwierigkeitsgrad beachten – womit natürlich der Spielraum für Improvisationen für die Reiter eingeschränkt wird. Der Weltreiterverband FEI begleite die Projekte wohlwollend, die auch mit den internationalen Clubs der Dressurreiter, -richter und -trainer abgesprochen seien, so Göhlen.

Kontrolle via Kamera

Aber die helfende Technik kann noch viel mehr. Bereits bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 wurden eDressage und das Kürprogramm verwendet.

Wer in Aachen nicht das Glück hatte, live dabei zu sein, sondern sich mit der Übertragung von ClipMyHorse trösten musste, entdeckte unten am Bildschirm eine kleine eingeklinkte Statistik, die Auskunft gab, wie groß etwa der Durchmesser der Pirouette war und um wie viele Zentimeter sich die Pferde in der Piaffe fortbewegten, die ja in der Grand Prix-Klasse idealerweise auf der Stelle bleiben sollte. Reiter und Richter konnten die Daten nicht sehen.

Die Messungen, Tracking genannt, gingen von hoch oben angebrachten kleinen Kameras aus, zwei verschiedene KI seien daran beteiligt gewesen, sagt Göhlen.

Und das muss ja längst nicht das Ende der Fahnenstange sein. Da geht doch mehr, möchte man träumen – oder albträumen: Bei entsprechender Weiterentwicklung könnte die KI Galoppsprünge in den Zickzack-Traversalen zählen, Wechselfehler sicher erkennen, und nachrechnen wie viele Minuten das Pferd mit der Nase vor der Senkrechten geht und wie viele Minuten dahinter. Ich wette, bei manchen Pferden ist das Verhältnis 90 zu zehn.

Sie könnte überprüfen, ob der Reiter den Absatz tief nimmt, die Wade direkt hinter dem Gurt liegt oder die Sporen hinten in den Flanken rumprokeln, dann sollte es keine Acht mehr für den Sitz geben, denn der ist ja nicht mehr gut.

Die KI könnte feststellen, wie oft die Faust aufrecht getragen wird und der Daumen dachförmig auf dem Zügel ruht. Da tippe ich auf null Prozent, falls nicht Ingrid Klimke am Start ist. Der mit 100 Jahren verstorbene Guru der klassischen Reitausbildung, Oberst Paul Stecken, könnte sich auf seiner Wolke die Hände reiben, wenn das endlich mal sanktioniert würde und wäre stolz auf seine Musterschülerin. Weil er immer gepredigt hat, dass nur die aufrecht getragene Faust weich nachgeben kann.

Eine entsprechend gefütterte KI könnte taktgenau überprüfen, wieweit die Musik zu den Bewegungen des Pferdes passt, sie würde sich keine Vorlieben oder Abneigungen leisten, nicht bei dumpfem Beat zusammenzucken und sich nicht von flotten Ohrwürmern in eine gnädige Stimmung schaukeln lassen.

Sie würde auch nicht ermüden, mal kurz wegnicken oder an etwas anderes denken als an das, was sie vor sich sieht. Sie brauchte keine Pausen aus menschlichen Gründen, könnte sich von morgens sieben bis abends sieben konzentrieren und ist natürlich immer stocknüchtern.

Schöne neue Welt

Die KI wäre nach alledem der bessere Richter. Man bräuchte auch nur eine davon und nicht fünf bis sieben, geschweige denn ein Überwachungsgremium irgendwo am Rande, das noch mal die Tritte und Sprünge nachzählt. Es gäbe keine Diskussionen, keine Verdächtigungen bezüglich geheimer Absprachen.

Der CO2-Ausstoß würde minimiert, weil ja keine weiten Reisen, schon gar keine Flugreisen in gehobenen Klassen mehr anfallen. Kurz gesagt, eine entsprechend entwickelte KI spart Zeit, Geld, Frust und schont die Umwelt. Worauf warten wir noch?

Vielleicht auf die hölzernen Hobbyhorses, die würden dann den lebenden Pferden die Arbeit abnehmen, die endlich ihr Leben auf der Weide genießen könnten. Und darüber würden sich dann auch noch die verbohrtesten Tierrechtler freuen.

Achtung: Die „schöne neue Welt“ ist vielleicht nicht mehr so fern, wie es jetzt satirisch klingt. Wir sprechen uns wieder.

Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

  1. Barbar

    Liebe Frau Pochhammer,

    Was Sie beschrieben haben, das bereits eingesetzt wird, hat mit KI nicht wirklich etwas zu tun. Dass Noten per Laptop übermittelt werden können statt bisher auf Papier eingetragen werden zu müssen, ist reine Technik. Das entspricht in etwas dem, dass man vor Erfindung des Telegrafen Nachrichten per Brieftaube oder reitenden Boten übermittelt hat. Der Computer „tut nur das, was man ihm sagt“.

    Das Messen der Größe einer Pirouette – nun ja. Das Messen selbst ist eine rein technische Angelegenheit. Das könnte man anhand eingefrorener Bilder auch „von Hand“ tun. Das Einzige, was ich hier als „KI“ definieren würde: Das System muss erkennen, wo sich die Hinterbeine des Pferdes befinden und wann die Piaffe geritten wird.

    Ich kann mir kaum vorstellen, dass zukünftig Noten per KI vergeben werden. Schon aus diesem Grund: Damit das System „entscheiden“ kann, welche Noten es vergibt, muss es „lernen“, wann es eine 0, 1, ….4, 5, …. 10 für eine Piaffe vergeben muss. Dazu muss es hunderte, wenn nicht tausende Piaffen mit der entsprechenden Wertnote „sehen“ und quantifizieren. Leider kenne ich mich mit KI nicht genügend aus, um zu wissen, ob der Mensch die entsprechenden Kriterien vorgibt oder das System selbst. ich vermute aber, dass es der Mensch ist.

    Lassen wir das Problem: Wie quantifiziere ich eine gute Piaffe einmal komplett außen vor.

    Das Ganze krankt schon daran, dass es im ganz unteren und ganz oberen Bereich gar nicht genügend Piaffen gibt, um die KI „schlau“ genug zu machen, diese Wertnoten vergeben zu können. Was bedeuten wird, dass dann die Noten zwischen 4 oder 5 und 8 pendeln werden. Und es im schlimmsten Fall passieren kann, dass eine Piaffe, die eine 10 bekommen sollte, eine 0 erhält, weil das System keinen Vergleich hat.


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