Everdale und Charlotte Fry in Amsterdam – Dressur auf dem Holzweg

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Jeden Montag auf dem Stand der Dinge – der St.GEORG Newsletter (© st-georg.de)

Der Ritt von Charlotte Fry (GBR) und Everdale war den Richterinnen und Richtern beim Weltcupturnier in Amsterdam Höchstnoten wert. Warum? Das hat sich nicht nur St.GEORG Chefredakteur Jan Tönjes in seinem Newsletter am Montag gefragt. Und kommentiert.

Auf vielfachen Wunsch in den Sozialen Medien veröffentlichen wir hier das Editorial aus unserem Newsletter vom Montag, 29. Januar 2024. Den St.GEORG-Newsletter gibt es wöchentlich, immer montags. Anmeldung.


Liebe Leserinnen, liebe Leser,

das Grauen kehrt zurück. Ein schwarzes Pferd geht permanent zu eng durch eine Prüfung, läuft beim Auftaktgruß rückwärts, statt stillzustehen. Der Takt ist unklar, Tritte immer wieder irgendwie künstlich, mechanisch. In einer ländlichen L-Dressur wäre man bei den eklatanten Ausbildungsfehlern (tiefer Rücken, hohe Kruppe, Hinterbeine, die nach hinten herausarbeiten, statt zu tragen, der Hals während der gesamten Prüfung viel zu eng) fernab von einer Platzierung. Im Weltcup von Amsterdam wird man so zur Siegerin.

Herzlichen Glückwunsch!

Schlechtes, falsches Reiten – Hurra!

Anky van Grunsvens Salinero lässt grüßen, das Gewäsch vom angeblich „so guten Reiten wie nie zuvor“, das gebetsmühlenartig Wochenende für Wochenende in den Pressemitteilungen und Social Media-Kanälen offiziell in die Welt geblasen wird, ist entlarvt. Es ist wie das Pfeifen der Ängstlichen, die im Wald unterwegs sind. Und es ist reiner Selbstbetrug. Die Bewertung der Britin Charlotte Fry und Everdale haben am vergangenen Wochenende gezeigt, auf welchem Weg die internationale Dressur sich gerade befindet: auf dem Holzweg. Wieder einmal!

Richterinnen und Richter, die entweder ihr Handwerk nicht verstehen, oder absichtlich „Promis“ hochrichten – und dabei den Dressursport hinrichten – betätigen sich damit als Totengräber für ordentliches Reiten.

Die Olympischen Spiele von Paris sind das größte Saisonziel in diesem Jahr. Im Vorfeld hatte es im Gastgeberland Diskussionen rund um den olympischen Pferdesport gegeben. Drängende Fragen gibt es genug. Die Antwort kann nicht lauten, „also für MICH war das eine 8“.

Bevor ich dennoch eine schöne Woche wünsche, habe ich noch einen kleinen Podcast-Tipp: Rebekka Klubien, die dänische TV-Journalistin, die bei Helgstrand Dressage heimlich gefilmt hat, hat mit mir über ihre Recherche gesprochen.

In diesem Sinne beste Grüße aus Hamburg
Jan Tönjes

Chefredakteur St.GEORG


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Jan TönjesChefredakteur

Chefredakteur ab 2012, seit 2003 beim St.GEORG. Pferdejournalist seit 1988. Nach Germanistik/Anglistik-Studium acht Jahre tätig bei öffentlich rechtlichem Rundfunk, ARD, SFB, RBB in Berlin. Familienvater, Radiofan, TV-erfahren, Moderator, Pferdezüchter, Podcasthost, Preise: Silbernes Pferd, Alltech Media Award. Präsident Internationale Vereinigung der Pferdesportjournalisten (IAEJ).

  1. Lührs Karin

    Bravo Jan Tönjes für die fachliche Kritik!

    Wenn die Pferde nicht mehr von hinten nach vorne über den Rücken durch den Körper geritten werden, um die Anlehnung zu suchen, und dafür hohe Noten bekommen, ist etwas faul.

    Wir fordern die Umsetzung der Klassischen Reitlehre und deren entsprechende Beurteilung. Dafür setzen wir uns seit Jahren im Verein „Xenophon e.V.“ ein und werden nicht müde, darauf aufmerksam zu machen – zum Wohle der Pferde.

    Karin Lührs
    2. Vorsitzende Xenophon e.V.

  2. Kristina Mäder

    Danke Jan Tönjes und St. Georg,

    für diesen Artikel. Wie gut das einer sich mal traut ehrliche Worte zu schreibe. Ich bi mal gespannt ob einer der Richter aus dieser Gruppe mal zu Wort meldet.

    Es muss sich wirklich dringend etwas ändern.
    Kristina Mäder

  3. Hans-Peter Lange

    Ich selbst bin Amateurreiter und habe früher Dressurprüfungen auf selbst ausgebildeten Pferden bis Kl. M geritten und gewonnen. Nach wie vor reite ich in der Freizeit sehr gerne und sehe mir auch große Dressurprüfungen im Internet oft mit großem Vergnügen an.

    So habe mir auch die Dressurprüfungen in Amsterdam live angesehen und war entsetzt. Ich habe überhaupt nicht verstanden, dass die Charlotte Fry beide Dressurprüfungen im Everdale gewinnen konnte. Ohne Zweifel hat der Rapphengst sehr gute Grundgangarten. Aber für mich ist das Pferd in den Prüfungen nicht einen Moment entspannt gegangen, war fast durchgehend hinter der Senkrechten, hat in den Verstärkungen keine Rahmenerweiterung, sondern meist auch noch Rahmen“verkürzungen“ gezeigt. Außerdem hat war der Rücken fest, die Halsung zu eng und die Hinterbeine sind nicht unter den Schwerpunkt getreten. Er hätte nach meiner Meinung gar nicht unter den ersten Drei der Plazierung landen dürfen.

    Dressurrichter, die solche großen Dressurprüfungen richten, setzen Maßstäbe für viele Amateurreiter mit ihren Noten. Sollen wir nun also unsere Pferde – gemäß dem von den Richtern mit Höchstnoten beurteilten „Vorbild“ Fry – massiv unter Spannung setzen, zusammenziehen und eng machen und nicht mehr gymnastizieren?

    Mit der Skala der Ausbildung und einer Gymnastizierung eines Pferdes, so dass es durch die Dressurarbeit schöner und besser wird, hat das nach meiner Meinung überhaupt nichts zu tun! Hoffentlich war das ein einmaliger Ausrutscher der Richter. Es wäre gut, wenn solche Bewertungen keine Schule machen würden, schon gar nicht im Olympiajahr.

    Vielen Dank lieber Jan Tönjes, dass Sie in Ihrem Kommentar so deutliche und mutige Worte gefunden haben. Sie sprechen mit Sicherheit einer schweigenden Mehrheit von Reitern tief aus der Seele!

    Hans-Peter Lange

  4. Desiree

    Ich hätte sehr gerne das Protokoll mit Kommentaren gesehen.
    Ich bin auch für die Einführung einer Richtersprechstunde oä, wo sich ein Richter den Zuschauern oder einem kleinen Kreis an Zuschauern erklärt. Wo vllt 5 Rückfragen möglich sind, zB wieso war das nicht gezeigte Halten eine 7? Wo war die Passage eine 8?

    Sowas wäre mein Wunsch, dann könnten wir und auch die Reiter das Ganze besser nachvollziehen. Aber es bleibt wohl ein Wunsch.

    Ich hoffe dieses Reiten macht nicht wieder Schule und wird nicht auf den olympischen Thron gehieft. Bitte.

  5. Ex-Turnierhelferin

    Ich war lange Jahre auf den großen, auch ganz großen, Dressurturnieren in Deutschland ehrenamtlich als Protokollschreiberin tätig. Was ich da alles gesehen und gehört habe, möchte ich nicht wiedergeben aber es ist mit ein Grund, weshalb ich mich nun dazu entschieden habe, dem Turniersport – nicht den PFERDEN – den Rücken zu kehren. Ich bin leider davon überzeugt, dass sich nichts ändern wird. Dazu müsste sich u.a. in den Köpfen vieler und ja, auch der O-Richter etc. etwas ändern. Ich konnte und kann es nicht erkennen. Der Herdentrieb ist tief verankert… nicht nur beim Pferd.

  6. Ella

    Auf den ländlichen Turnieren wird das Richten so langsam besser. Spannige, nervöse Strampler werden auch schon mal abgestraft, dafür das Mädel mit dem fein gerittenen Friesen belohnt.
    Eine Reiterin war ganz schon fassungslos, als sie eine 4,5 als Endnote erhielt für eine durchgängig-hinter-der-Senkrechten-Vorstellung, was auch genauso am Mikrofon für alle hörbar argumentiert wurde. (Ich liebe mündliche Protokolle mit Mikrofon, als Reiter genauso wie als Zuschauer.) Sie hat aber sonst noch oft genug 7er, 8er Noten. Bis konsequentes Richten ganz oben ankommt, wird wohl noch dauern. Ich kenne mittlerweile auch viele Amateure, die vorher genau gucken, welcher Richter auf welchem Turnier sein wird und nennen dementsprechend. Das ist natürlich legitim, aber wenn man schon darauf angewiesen ist, beim richtigen Richter zu nennen, schon ein Armutszeugnis.


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