Moment Mal! Kleine Masse, große Klasse

Von
Moment mal_Gabriele Pochhammer

Gabriele Pochhammer, Herausgeberin St.GEORG (© Toffi)

Die deutschen Vielseitigkeitsreiter haben bei den letzten vier Olympischen Spielen den Goldmedaillengewinner gestellt. Wird es ein fünftes Mal geben? Auch angesichts der übermächtigen Briten, die aus einem Repertoire von mindesten 40 Fünf-Sterne-Reitern schöpfen können, ist vorzeitige Resignation nicht angebracht. Das findet Bundestrainer Peter Thomsen und erklärt, warum.

108 Tage sind es noch bis zu den Olympischen Spielen in Paris, die Stimmung wird nervöser bei allen Beteiligten, die Betriebstemperatur steigt. Wer jetzt keinen Plan hat, macht sich keinen mehr, frei nach Rilke. Apropos Plan: Immer häufiger kursiert in den Medien, vor allem den französischen, das Wort vom Plan B. Es bezieht sich auf die Eröffnungsfeier, bei der die Athleten auf Booten die Seine entlang an den Zuschauern vorbeischippern sollen. Angesichts zunehmender Bedrohung durch Terroristen könnte am Ende doch noch alles ins Stadion verlegt werden.

Die deutschen Reiter, ihre Entourage und die Warendorfer Funktionäre beschäftigt diese Sorge im Moment nicht allzu sehr, schließlich wird man außerhalb der Stadt in Versailles um Gold reiten, beruhigend weit weg vom Stadtzentrum, mehr als 20 Kilometer.

Am kommenden Donnerstag will die FN bei einer digitalen Pressekonferenz über die Vorbereitungen berichten. Ich sprach schon mal vorab mit dem Vielseitigkeitsbundestrainer Peter Thomsen. Denn er vertritt die olympisch erfolgreichste Disziplin des deutschen Reitsports, die Vielseitigkeit. Vier Einzelgoldmedaillen bei den letzten vier Olympischen Spielen in 2008, 2012, 2016 und 2021, plus zweimal Mannschaftsgold und einmal Mannschaftssilber.

Der Kreis der Buschreiter in Deutschland ist klein, viel kleiner als die der Dressur- und Springreiter, erschwerend kommt die schwindende Zahl der Geländeturniere hinzu, in denen Reiter und Pferde starten können. Peter Thomsen muss aus einem Kader von acht Reitern auswählen. Sein britischer Kollege Chris Bartle, lange erfolgreicher Honorartrainer der Deutschen und mitverantwortlich für drei Olympiasieger, kann aus einem Fundus von rund 40 Fünf-Sterne-Reitern schöpfen.

Im Moment steht die akribische Planung im Vordergrund. Für die Vielseitigkeit begann sie schon im Januar mit dem ersten Lehrgang in Warendorf für den Olympia- und den Perspektivkader. Da ging es zunächst um die olympische Dressuraufgabe. Es ist wieder dieselbe wie in Tokio, kurz und schmerzhaft, zeitsparend und dadurch alles andere als harmonisch. Was heißt: Die Lektionen kommen Schlag auf Schlag, kein Patzerchen kann mehr ausgeglichen werden. „Da ist es gut, wenn man die Aufgabe früh verinnerlicht hat und weiß, wie man sie ins tägliche Training einbaut“, sagt Peter Thomsen. Ein zweiter Lehrgang folgte im Februar, noch einer im März, am Ende holten sich 30 Reiter mit 150 Pferden, darunter auch junge Talente, Ratschläge bei den Trainern ab.

„Wir haben jetzt alle für Paris infrage kommenden Pferde gesehen, sie tierärztlich untersucht und mit jedem Reiter eine Saisonplanung besprochen“, so Thomsen. Der Weg nach Olympia führt über Marbach, Luhmühlen und Aachen. Das sei eine Empfehlung, kein Pflichtprogramm. „Da sind wir flexibel“. Aber alle müssen in diesem Jahr mindestens eine kurze Vier-Sterne-Prüfung absolvieren.

Sandra Auffahrt will mit Viamant de Matz zum CCI nach Saumur fahren. Christoph Wahler mit D’Accord, Malin Hansen Hotopp mit Carlitos-Quidditch, Calvin Böckmann mit The Phantom of the Opera und Nico Aldinger mit Timmo versuchen ihr Glück beim Fünf-Sterne-Event in Kentucky. Nach Badminton geht in diesem Jahr kein deutscher Reiter. Zum ersten Mal seit vielen Jahren gab es bei dem Fünf-Sterne-Klassiker keine Warteliste.

Probleme hatten die Briten vor allem durch das nasse Frühjahr. Viele kleinere Prüfungen als Vorbereitung für Badminton wurden abgesagt und zwei große wichtige Plätze fallen ganz weg, Gatcombe und Blair Castle. In beiden Fällen werden wirtschaftliche Gründe angegeben, aber auch striktere Auflagen durch den Umweltschutz spielen eine Rolle.

Spitzenreiter made in Germany

Peter Thomsen weiß, dass die Decke dünn ist bei seinen Spitzenreitern. Aber die, die er hat, die zählen zu den Besten der Welt, sind Weltmeister und Olympiasieger. Mit Hinni Romeike, der sich aus dem Sport inzwischen zurückgezogen hat, ist Peter Thomsen noch selbst geritten. Der war für ihn der klassische Amateur, der durch Fokussierung auf sein Ziel es neben seinem Beruf als Zahnarzt an die Spitze schaffte, zusammen mit dem genialen Holsteiner Schimmel Marius.

Michael Jung

Hochprofessionell dagegen die Goldmedaillengewinner der nächsten drei Spiele, Michael Jung, oben auf dem Treppchen 2012 und 2016, und Julia Krajewski, Siegerin von Tokio 2021. Jung wurde in seinen besten Jahren mit Sam und Rocana von den ausländischen Kollegen nur „der Terminator“ genannt, so unbeirrt zog er durch den Busch. „Ein absoluter Siegreiter“, sagt Thomsen, „genial und von Kindesbeinen an mit Pferden vertraut.“ Er hat mit vielen verschiedenen Pferden gewonnen. Mit Chipmunk verpasste Jung in Tokio unglücklich den dritten Olympiasieg in Folge durch ein ausgelöstes MIM-System, wie auch den EM-Titel 2023 in Haras du Pin, als Chipmunk bei einem Tiefsprung die Beine verlor. Mit einem Vier-Sterne-Sieg im Herbst in Lignières (Frankreich) wetzte er die Scharte wieder aus. Auch für Paris setzt Jung auf den inzwischen 16-jährigen Chipmunk. „Michi hat auch aber einige sehr gute junge Pferde, für die nächsten vier Jahre bis zu den Spielen in Los Angeles 2028 ist er in meinen Augen im Moment der bestberittene Reiter“, ist Thomsen überzeugt.

Sandra Auffarth

Sandra Auffarth, Mannschaftsolympiasiegerin 2012 und Weltmeisterin 2014, liebäugelt noch mehr als Michi Jung mit dem Springsport. Den Großteil ihrer FEI-Ergebnisse hat sie im vergangenen Jahr inzwischen im Springsattel errungen, ihre stilistischen Glanzrunden beim Hamburger Spring-Derby sind Legende. Aber in Paris will sie es im Busch noch mal allen zeigen. „Sandra ist eine Klasse für sich“, sagt Peter Thomsen, „Talent gepaart mit Strategie und Planung. Sie trifft immer die richtige Entscheidung, sie hat ein Gespür dafür, was geht und was nicht. Sie riskiert auch mal was, wie beim Fünf-Sterne CCI in Kentucky im vergangenen Jahr.“

Julia Krajewski

Schwieriger wird das Olympiaticket nach dem Ausfall des Goldpferdes von Tokio Amande de B’Neville, genannt Mandy, für Julia Krajewski. Mit zwei jüngeren Pferden Ero de Cantraie und Nickel, beide erst eine Saison international große Piste gegangen, nimmt sie Anlauf. „Julia ist die Perfektionistin“, sagt Peter Thomsen, „sie überlegt von morgens bis abends, wie sie es noch besser machen kann. Sie ist sehr zuverlässig, sehr strukturiert und genau, pedantisch im besten Sinn.“ Es mache Spaß mit ihr zu arbeiten. „Aber sie ist nie mit sich zufrieden, will immer besser werden. Das ist auch das Geheimnis ihres Erfolgs.“

Christoph Wahler

Mit Christoph Wahler hat Peter Thomsen einen bärenstarken Reiter im Kader, mental stark, dabei besonnen und überlegt. Das war nicht immer so. „Am Anfang war er etwas draufgängerisch, wie ein junger Formel I-Fahrer, der im ersten Jahr auch mal die Kurve nicht kriegt.“ Aber das habe sich in den letzten beiden Jahren geändert. „Kampfgeist hat er immer noch, aber er hat auch gelernt, dass etwas defensiver zu reiten manchmal die bessere Option ist.“ Bei den letzten drei Championaten gab er eine hervorragende Figur ab, vor allem bei der EM ’23 in Haras du Pin, als er seinen Schimmel Carjatan, dem der tiefe Boden überhaupt nicht lag, sicher über den Kurs schob, ohne ihn zu überfordern. Das war eine Glanzleistung, die der Bundestrainer nicht vergessen wird.

Weitere Kandidaten

Hinter dem Top-Quartett stehen Nico Aldinger, Calvin Böckmann,  Malin Hansen-Hotopp und Jerome Robiné in den Startlöchern. Aber am Ende dürfen nur drei Reiter im Park von Versailles durch die Startlinie reiten, es gibt, wie schon in Tokio kein Streichergebnis mehr. „Wer liefert, hat auch eine Chance mitzukommen“, sagt Peter Thomsen.

„Ein Hufgeschwür, eine Erkältung, schon ist einer von den Topreitern weg, und damit auch die Mannschaft. Das wird eine ganz enge Kiste“, sagt Peter Thomsen. Nicht nur für die Deutschen, sondern gleichermaßen für Briten, US-Reiter, Australier, Neuseeländer und Franzosen. „Die Nation, die mit drei Reitern eine Nullrunde im Gelände hinkriegt plus ordentliche Ergebnisse im Springen und in der Dressur, der kriegt auch eine Mannschaftsmedaille,“ ist Peter Thomsen überzeugt. „Das gilt für alle.“

Er und seine Reiter werden alles dafür tun, dass sie dazugehören.

Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

  1. Berndride

    Bei dem Reglement bin mal gespannt wieviele Mannschaften es überhaupt bis zum Ende schaffen. Ich tippe mal auf maximal 50%. Das heißt: Ankommen ist 1. Priorität.


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