Blaue Zungen in der Dressur – ein Kommentar zur Diskussion

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Die Farbe von Zungen in Dressurprüfungen sorgt derzeit für Diskussionen. (© st-georg.de)

Ein Artikel über blaue Zungen in der schwedischen Boulevardzeitung „Aftonbladet“ sorgt für Diskussionen. Ein Kommentar von St.GEORG Chefredakteur Jan Tönjes.

Neue Woche, neuer Skandal – es gibt Menschen, die argwöhnen, das sei wohl das Prinzip der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet („Abendblatt“) . Aber ganz so einfach ist es nicht. Ob das Wohlergehen der Pferde der Zeitung in Schweden besonders am Herzen liegt, vermag ich nicht zu sagen. Was man sagen kann: Einige der Fotos von blauen Zungen unterschiedlicher Pferde von Patrik Kittel, Charlotte Fry und Isabell Werth, die das Blatt veröffentlicht hat, sind sehr dunkel. Nicht nur die Zungen selbst, sondern auch der Hintergrund und die – braunen und schwarzen – Pferde.

Blaue Zungen bei Dressurpferden in Weltcup-Küren

Das „Abendblatt“ hat es nicht nur bei der Veröffentlichung der Fotos belassen, sondern auch Fachstimmen aus der Tiermedizin dazu eingeholt. Die Schlagworte wie Sauerstoffunterversorgung, Gefahr, dass Gewebe abstirbt, Schmerzen, Schluckbeschwerden, die die Expertinnen und Experten aufzählen, leiten sie von den Fotos ab.

Über die Situation, in der diese Bilder entstanden sind, muss man nicht diskutieren. Weltcupturniere, Reiterinnen, Reiter und Pferde, die weit oben auf der Weltrangliste stehen. Wer die kompletten Ritte anschaut, sieht, dass die Pferde längst nicht durchgängig gesperrt haben, nicht immer deren Zungen zu sehen waren. Bei einigen Paaren häufiger oder über einen längeren Zeitraum, bei anderen tatsächlich nur für Momente. Wobei es im Idealfall selbst diese Momente nicht geben sollte. Aber was ist schon ideal im Leben? Ein Pferd sperrt eventuell mal, gerade wenn ihm in einer vollbesetzten Halle unter lauter Musikbeschallung Lektionen in schneller Abfolge abverlangt werden. Dass wir ein gelegentliches Sperren häufiger als noch vor zehn Jahren sehen, liegt daran, dass die Nasenriemen mittlerweile weniger eng verschnallt werden. Vor 20 Jahren saß der Nasenriemen manch eines englischen Reithalfters verdächtig nah am Nüsternrand. Beinahe so, als sollte es eigentlich ein hannoversches Reithalfter sein, das da mit Kandare unterwegs ist. Und er war richtig dicht geknallt. Das ist vorbei, ohne Gebisscheck nach Prüfungsende läuft keine Dressuraufgabe mehr ab auf internationalen Turnieren, immerhin.

Und doch kommt man nicht umhin, dass es die Richter sind, die noch mehr auf Bereiche achten müssen, die nicht nur aus Beinen bestehen. Was nützt das schönste Kreuzen, der kadenzierteste Trab (wobei hinter dem in Sachen Losgelassenheit bei einem Pferd, das gegen die Hand drückt und sperrt auch ein Fragezeichen stehen sollte – und am besten eine 5,0 und keine 8,2 wie in Amsterdam), wenn das Pferd nicht in ehrlicher Selbsthaltung, zufrieden und – da ist das Wort wieder – harmonisch ausführt?

Muss man die Richter mehr an die Kandare nehmen?

Ob nun ein Fotograf mit Vorsatz auf der Lauer gelegen hat, ob Bilddaten manipuliert worden sind, oder nicht, ist eigentlich zweitrangig. Ja, die Qualität der Bilder wirft Fragezeichen auf: Alle sind recht dunkel, ob nur so dunkel aufgenommen oder im Nachhinein bearbeitet, ist schwer zu sagen. Aber der Mann konnte Zungen fotografieren. Weil sie deutlich zu sehen waren.  Vorherrschende Kandarenzügel übrigens auch häufiger.

Isabell Werth möchte sich erst äußern, wenn sie die Metadaten der Bilder hat einsehen können, Patrik Kittel verweist in einem Statement auf Momentaufnahmen. Selbst wenn beide Recht haben sollten, steht ein Umstand nicht zur Diskussion, der weder technisch, noch mit der zeitlichen Dauer erklärt werden kann: Dass die Zungen der Pferde so deutlich zu sehen waren und dass sie sicher nicht zartrosa waren, hätte sich deutlicher im Richterurteil niederschlagen müssen. Wenn solche Ritte Weltklasse sind, dann muss man über die Standards und Schwerpunkte bei der Bewertung von Weltklasse sprechen. Das heißt nicht, dass Lektionen, in denen die Zunge nicht zu sehen war und ein Pferd mit guter Anlehnung durch die Kür „tanzte“, keine Höchstnoten verdienen. Aber eben nur dann. Weniger gut gelungene Lektionen müssen deutlich abgestraft werden. Denn es ist nicht alles schwarz oder weiß, selbst wenn es blau ist. Fakt ist aber: Fotografiert man Pferde, die in Selbsthaltung mit reeller, feiner Anlehnung gehen, wird selten über deren Zungenfarbe diskutiert werden müssen.

Jan Tönjes
Chefredakteur St.GEORG


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Jan TönjesChefredakteur

Chefredakteur ab 2012, seit 2003 beim St.GEORG. Pferdejournalist seit 1988. Nach Germanistik/Anglistik-Studium acht Jahre tätig bei öffentlich rechtlichem Rundfunk, ARD, SFB, RBB in Berlin. Familienvater, Radiofan, TV-erfahren, Moderator, Pferdezüchter, Podcasthost, Preise: Silbernes Pferd, Alltech Media Award. Präsident Internationale Vereinigung der Pferdesportjournalisten (IAEJ).

  1. Carola Tietze

    Die ganze Dressurreiterei ist nur noch scheußlich. Die Pferde werden zusammengezurrt, gehen total hinter der Senkrechten, die Reiter haben viel zu harte Hände und von Harmonie kann überhaupt nicht mehr die Rede sein! Gerade nach den entsetzlichen Geschehnissen in Dänemark und Florida sollten die Richter endlich aufwachen und zugunsten der gequälten Pferde entscheiden !!!!!!!

    • García

      Genau ihrer Meinung. Zum Glueck gibt es auch noch Reiter, welche die feine und klassische Art der Reiterei beherrschen. Herr Kittel ist schon einmal mit diesem Problem derbe aufgefallen. Kann jeder in Google nachlesen und die Fotos sehen. Frau Werth hatte noch nie eine sehr weiche Hand, hat trotzdem damit genug gewonnen. Sollte einmal im Team nun Platz machen, fuer den super Nachwuchs. Fry hat mir noch nie gefallen mit ihren Strampeln. Vorne die Lampe austreten und hinten kommt nicht viel. Pferde immer hinter der Senkrechten und eine weiche Hand hat sie nicht. Und ist vom feinen reiten, sehr weit entfernt. Die Richter muessen dringend umdenken. Sonst war dies das letzte Mal, dass Dressur noch eine Disziplin beim reiten ist. Schade fuer die Reiter, fuer die das Pferd ein Sportpartner ist und keine Maschine.


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