Wie ist das mit dem Pferd und dem Tierschutz eigentlich?

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(© slawik.com)

Der Reitsport steht unter Beobachtung. Die öffentliche Einstellung gegenüber Tieren hat sich stark verändert. Das gilt für viele Bereiche, von der Geflügelhaltung bis hin zu der Frage, ob man Pferde überhaupt reiten darf. Ein Blick auf die Entwicklung in Sachen Tierschutz und Pferde.

Tierwohl und Leitlinien

Was den eigenen Umgang mit Pferden anbelangt, hat jeder sein individuelles Empfinden. Während man selbst frei von Tadel ist, macht der Rest es ziemlich falsch. Und „die Turnierreiter“ sowie „die Freizeitreiter“ arbeiten bevorzugt gegeneinander. Schlau ist das nicht.

EQUITANA/Schupp

Wie vielfältig die Pferdewelt ist, kann man alle zwei Jahre auf der EQUITANA erleben. (© EQUITANA/Schupp)

Der Reitsport hat viele Gesichter. Solche mit Fellnasen und solche ohne. Reiterinnen und Reitern ist das klar. Schon von Weitem erkennt man schnell die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Fraktion. Drei Schritte näher auf das Gegenüber zubewegt, weiß man noch mehr. Spätestens nach den ersten zwei Sätzen ist die Sachlage dann zumeist klar. Hier ein Springreiter, da eine „FN-Reiterin“ (was immer das genau sein soll) und daneben eine Freizeit-, Western-, Island-, Barock-, Horsemanship- oder aber was-auch-immer-Reiterin. Jemand, mit dem man selbst herzlich wenig zu tun hat, dessen Pferd man eher skeptisch denn bewundernd anblickt und mit dessen theoretischen Ausführungen man wenig anfangen kann. Erst recht nicht, wenn man dann das besagte Konzept in der Praxis im Sattel, pardon, auf dem Rücken oder aber auch nur neben der Schulter daherlaufend betrachtet.

Bunte Pferdewelt

„Ich reite meinen Isländer barock!“ Die Aussage mag den einen belustigen, den nächsten neugierig machen und den dritten begeistern. Doch entscheidend für die Außenwirkung des Reitsports ist keine dieser Reaktionen. Selbst wenn Gráfeldur losgelassener piaffiert als manch „echtes“ Sportpferd. Denn durch die Brille der Normalbevölkerung betrachtet, also jenem Teil der Gesellschaft, der Reitern zahlenmäßig klar überlegen ist, sind es alles nur Reiter. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger.

Dass dieser Teil der Gesellschaft in der Mehrheit ist, mag nicht allen Pferdebegeisterten schmecken. Es ist aber so und wird auf absehbare Zeit so bleiben. Vermutlich für immer. Reiten ist kein Fußball, Jessica von Bredow-Werndl ist kein Christian Ronaldo. Die Mehrheit bestimmt in der Gesellschaft, wo es lang geht. Das ist Demokratie, die gilt auch für die Reiterei. Deswegen lohnt es sich für jeden, der mit Pferden umgeht, sei es privat oder beruflich, die Gesellschaft im Hinterkopf zu haben, den gesellschaftlichen Konsens, auch wenn das nicht immer angenehm sein mag.

Reiter sind reich. Das stimmt nicht, wird aber in der Gesellschaft so wahrgenommen. Arm sind sie selbstverständlich auch nicht. Natürlich ist an der Kalauerantwort auf die Frage, wie man mit Pferden „ein kleines Vermögen machen kann“, etwas Wahres dran: „Indem man vorher ein großes Vermögen hatte.“ Reiten ist nicht Fußball. Kicken auf der Straße braucht einen Fußball, vielleicht noch etwas Kreide und vier Torpfosten. Schon kann man 22 Kinder sportlich glücklich machen. Um 22 Kindern erste Eindrücke vom Erlebnis auf dem Pferderücken zu verschaffen, ist der Aufwand um ein Vielfaches höher.

Stichwort Aufwand: Jeder Pferdemensch investiert viel Zeit und Geld in seinen Vierbeiner. Die eigenen Ansprüche wachsen, von Equipment bis Haltung, die der Gesellschaft aber ebenso. Wer Sport – und das ist nicht nur der Große Preis von Aachen – mit dem Lebewesen Pferd betreibt, hat auf dessen Befindlichkeit zu achten. In Zeiten, in denen „Tierwohl-Label“ an der Fleischertheke Standard sind (was ja begrüßenswert ist), ist der Mensch, der sein Hobby mit Tieren gestaltet, nicht weniger als die In-dustrie gefordert, zu dokumentieren, dass es dem Tier gut geht.

Ursprung des Tierwohl-Begriffs

Als die Autorin Ruth Harrison 1964 ihr Buch „Animal Machines“ – „tierische Maschinen“ – in Großbritannien veröffentlichte, war die Öffentlichkeit geschockt von den Zuständen, unter denen Landwirte damals ihre Tiere hielten. Das Buch bewegte so viele Menschen, dass sich das britische Parlament
veranlasst sah, die geschilderten Zustände zu untersuchen. Als Ergebnis veröffentlichte die Forschergruppe um Professor Roger Brambell 1965 ihre Ausarbeitung, die als „Brambell Report“ bekannt wurde.

Als Minimalanforderungen an das Tierwohl formulierte die Forschergruppe darin fünf Freiheiten. Landwirtschaftlich genutzte Tiere sollten frei aufstehen, sich hinlegen, sozialen Kontakt haben und ihre Glieder ausstrecken können. Später wurde diese fünf Freiheiten umfassender definiert (siehe Kasten links). Das Papier war ein erster Schritt in Richtung dessen, was heute unter dem Begriff Tierwohl zusammengefasst wird, zunächst nur bezogen auf Nutztiere, also Geflügel, Milch- oder Schlachtvieh.

Mit dem boomenden Reitsport rückte auch die Haltung von Pferden vermehrt in den Vordergrund. Die Ständerhaltung wurde verboten, Boxengrößen definiert. Auch das Bedürfnis der Pferde nach Sozialkontakten, Licht und freier Bewegung fand öffentlich Beachtung. Interessengruppen bildeten sich, sodass auch auf Expertenebene über Dinge diskutiert wurde, die die Lebensumstände der Pferde betrafen. Dabei ist Tierschutz keine neue Erfindung. 1837 hat der evangelische Pastor Albert Knapp in Stuttgart den ersten Tierschutzverein auf deutschem Boden gegründet. „Wer seine Tiere schlecht behandelt, richtet nicht nur sein Eigentum zugrunde. Er ist auch für eine bessere Gesittung unempfänglich und für weitere Schandtaten bereit!“, so der Geistliche. Ende des 19. Jahrhunderts schlossen sich viele Tierschutzinitiativen zusammen. Da-raus entwickelte sich der deutsche Tierschutzbund.

Seit 1990 gelten Tiere laut BGB § 90a Tiere juristisch nicht mehr als „Sache“, außerdem wurden (Schlacht-)Tiertransporte eingeschränkt und die Legebatterienhaltung von Hühnern verboten. Tierschutz ist längst ein Politikthema geworden. Und im Pferdebereich ein Politikum.

1992 erschienen erstmals die „Leitlinien für den Tierschutz im Pferdesport“ unter Federführung des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Forsten. 2020 wurde nach drei Jahren Diskussion eine komplett überarbeitete Version veröffentlicht, in der auch Trainingsmethoden wie beispielsweise die Rollkur Thema sind oder der umstrittene Beginn der Nutzung eines Pferdes, hier vor allem der von Rennpferden und die Vorbereitungen eines Junghengstes zur Körung (s. S. 66). „Tierschutz im Pferdesport“ heißt der Leitfaden, Untertitel: „Leitlinien zu Umgang mit und Nutzung von Pferden unter Tierschutzgesichtspunkten“.

Lenkend unterstützen auf dem Weg zur richtigen Haltung von Pferden sollen darüber hinaus die 2009 erschienenen Ausführungen zur „Beurteilung von Pferdehaltungen unter Tierschutzgesichtspunkten“. Rechtlich bindend sind beide Veröffentlichungen nicht. Sie sind Leit- und keine Richtlinien. Vor Gericht werden sie aber zur Beurteilung strittiger Sachverhalten herangezogen, wie auch bei Gutachten von Veterinärbehörden.

Die Leitlinien werden viel diskutiert. In der Neufassung, an der Wissenschaftler und Tierärzte genauso mitgewirkt haben wie Vertreter aus Pferdesport und -zucht und die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN), konnten nicht alle Belange der Mitwirkenden Berücksichtigung finden. Vor allem Vertreter des Galopp- und Trabrennsports wollten den gefundenen Kompromiss des „Nutzungsbeginn“ eines Pferdes mit 30 Monaten nicht mittragen. In dem Alter rennen die frühreifen Pferde schon, sind entsprechend früher an Sattel oder Sulky gewöhnt worden.

Die Sache mit dem Alter

Auch der Beginn des Trainings eines Junghengstes kann nach den Formulierungen unterschiedlich ausgelegt werden – „Jungpferde (bis 30 Monate) müssen in Gruppen gehalten werden“, steht dort zu lesen. In die Praxis umgesetzt, würde das bedeuten, dass Junghengste, die im November auf der Körung erscheinen, noch kurz zuvor in der Herde gelebt haben, also ein im März geborener Hengst noch bis September mit seinen Kumpels raufen darf, bevor er dann zwei Monate später wie aus dem Ei gepellt vor der Körkommission erscheint (und dafür noch früher einem Auswahlgremium vorgestellt worden ist).

Diskussionen über das Alter junger Pferde gibt es viele, wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse hingegen sind eher Mangelware. Insider schwören auf Untersuchungen aus Schweden, wonach Rennpferde, die bereits mit zwei Jahren auf der Rennbahn gelaufen sind, längere Karrieren im Sport beschieden waren, als jenen, die erst dreijährig debütierten. Um der nicht immer sachlich geführten Diskussion ein wissenschaftliches Fundament zu geben, wurde das Projekt HorseWatch ins Leben gerufen. „Untersuchung der frühen Nutzung von Pferden und möglicher Maßnahmen zur Vermeidung einer Überforderung oder Überlastung“ ist der offizielle Titel des Forschungsvorhabens, das das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) finanziell unterstützt. Gestartet ist HorseWatch am 1. April 2022. Über fünf Jahre sollen unterschiedliche wissenschaftliche Einrichtungen erforschen, wann welche Trainingsreize was bei Pferden verursachen, körperlich wie psychisch.

Auch wenn ein sportlicher Dachverband wie die FN an diesen Entscheidungen beteiligt war, sollte nicht vergessen werden, dass die Gesellschaft nicht sieht, ob ein Pferd morgen ein M-Springen geht oder auf der 365-Tages-Weide steht. Sprich: Leitlinien und wissenschaftliche Ausführun-gen gehen jeden und jede an, egal ob man mit schicker Schabracke unterwegs ist, oder mit Gummistiefeln rund um den Offenstall abäppelt. Alle sind Reiter, selbst die, die lieber führen als auf dem Pferderücken Platz zu nehmen. Und alle sind darauf angewiesen, dass die Gesellschaft diese Form der Freizeitgestaltung gutheißt.


Tierwohl – die fünf Freiheiten

1965 veröffentlichte eine vom britischen Parlament eingesetzte Kommission eine 85 Seiten umfassende Ausarbeitung, den „Brambell Report“. Die nach Professor Roger Brambell benannte Studie hatte die Nutztierhaltung in der Landwirtschaft unter die Lupe genommen. Daraus entstand die Forderung nach fünf Freiheiten:

  • Freiheit von Hunger und Durst – durch uneingeschränkten Zugang zu frischem Wasser und eine Fütterung, die Gesundheit und Lebenskraft erhält
  • Freiheit von Unbehagen – durch Bereitstellung einer angemessenen Umgebung, einschließlich eines Unterstandes und eines bequemen
  • Ruhebereichs.
  • Freiheit von Schmerzen, Verletzungen oder Krankheiten – durch Vorbeugung (Impfungen etc.) oder schnelle Diagnose und Behandlung
  • Freiheit zur Entfaltung artgerechter Verhaltensweisen – durch Bereitstellung von ausreichend Platz, geeigneten Ställen und Gesellschaft von Artgenossen.
  • Freiheit von Angst und Bedrängnis – durch Gewährleistung von Lebensumständen und einen Umgang, der psychisches Leiden vermeidet.

Darf ich mal Ihre Erlaubnis sehen?

Das Leben in Gruppen folgt Regeln. Das ist manchmal anstrengend, aber unumgänglich. Noch besteht der gesellschaftliche Konsens, dass Reiter über die Social License verfügen, die Erlaubnis, Sport mit Tieren zu treiben. Was steckt dahinter?

Pauline von Hardenberg

Eine Fernsehkamera am Rande der Weltmeisterschaften in Herning. (© Pauline von Hardenberg)

Wer hat keinen Kloß im Hals, wenn der freundliche Polizist fragt: „Darf ich mal Ihre Papiere sehen?“ Auch wenn man sich keines Fehlverhaltens bewusst ist, hinterfragt man doch automatisch die letzten Minuten – Tempo? Ampel? Zebrastreifen? TÜV? Der Polizist macht nichts anderes, als zu überprüfen, ob sich der Autofahrer an die Regeln gehalten hat. Regeln, die auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhen und ohne die es vermutlich keine friedliche Koexistenz von PKW, LKW, Fahrrädern und Fußgängern und wer sonst noch so alles am Straßenverkehr teilnimmt, geben würde. Regeln sind wichtig, ohne sie kein geordnetes Miteinander oder zumindest Nebeneinander. Auch wenn diese Regeln in der Straßenverkehrsordnung festgehalten sind und jedes Detail dort möglicherweise Beachtung findet, so steht unterm Strich vor allem eine Erkenntnis: Verkehr funktioniert nur, wenn man gegenseitig aufeinander achtet, sich respektiert und dabei helfen Regeln, die von der gesamten Bevölkerung getragen werden, einige notorische Raser vielleicht ausgenommen. Doch auch die würden behaupten, dass man immer nur so schnell fahren darf, dass niemandem – auch nicht denen außerhalb des Fahrzeugs – etwas passiert.

Der Reitsport ist leider immer wieder gut für negative Schlagzeilen. Manch einer meint, dass sei typisch für Medien, die auf negative und damit vermeintliche den Verkauf ankurbelnde Schlagzeilen setzen würden. Ein totes Pferd und eines, dem Blut aus der Nase strömt bei Olympischen Spielen, Elektrosporen eines US-Springreiters, die Faust eines  bayerischen Dressurausbilders beim Abreiten auf einem Pferdeschädel, Pferde, die verwahrlost sind, seit Jahren keinen Schmied gesehen oder unterernährt sind – Themen gibt es viele. Dass sie in der Öffentlichkeit landen, ist kein Reitsport-Bashing, sondern Journalistenpflicht.

In der Diskussion darüber, wie die Gesellschaft auf den Reitsport – und damit ist immer jeder und jede gemeint, für die Pferde Hobby oder Beruf sind, unabhängig von turniersportlichen Ambitionen – reagiert, fällt seit einiger Zeit häufiger der Begriff der „Social License“. Der Präsident des Weltreiterverbandes hat das Wort schon häufiger verwendet. Ingmar des Vos betont: „Ich denke, dass viele Menschen in der breiten Öffentlichkeit die Rolle des Pferdes
in unserer Gesellschaft nicht wirklich verstehen und warum unser Sport gerechtfertigt ist.“  De Vos weiter: „In unserer Branche ist die ,Social License to Operate‘ (SLO) der Begriff für die gesellschaftliche Akzeptanz der Ausübung des Pferdesports und aller damit verbundenen Aktivitäten.“

SLO ist die gängige internationale Abkürzung für die Social License im Kontext wirtschaftlicher Fragen. So hat die Industrie mittlerweile bereits in der Planungsphase auch immer die Frage nach der SLO im Hinterkopf: Wie wird die Gesellschaft unseren Aktivitäten begegnen? Indem dieser Gesichtspunkt stets mitgedacht wird, wird man vom Reagierenden zum Agierenden. Sprich: Proteste kommen nicht auf, weil potenzielle Konflikte vorher überdacht und Mechanismen installiert wurden, die Konflikte gar nicht erst entstehen lassen. Selbstverständlichkeiten von heute, Arbeitsschutz, keine Kinderarbeit sind quasi Produkte der SLO. Der Blick in Billiglohnländer zeigt, dass die Social License aber noch nicht überall angekommen ist. Schmerzhaft hat das beispielsweise der katatas-trophale Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch der Weltöffentlichkeit vor Augen gehalten. Aber auch Themen wie der Mangel an Frauen in Führungspositionen in Wirtschaftsunternehmen sind ein Thema der Social License.

Wir müssen auch unsere eigene Gemeinschaft (die Pferdeleute) aufklären, um zu erklären, dass einige Praktiken, die vielleicht vor 100 Jahren akzeptabel waren, heute nicht mehr in Ordnung sind – es geht also in beide Richtungen.

FEI-Präsident Ingmar de Vos

Social License und Pferde?

In den Pferdebereich gebracht hat den Begriff die Australierin Julie Fiedler mit ihrer Master-Arbeit im Fachbereich Kommunikationsforschung an der Central Queensland University in Adelaide, Australien. Thema: einen Kommunikationsrahmen rund um die Einstellung gegenüber dem Wohlergehen von Sportpferden mittels der SLO aufzustellen. Veröffentlicht wurde die Arbeit 2020, bereits 2016 sprach Fiedler darüber öffentlich. Im August 2019 trug sie vor der Internationalen Gesellschaft für Pferdewissenschaften (ISES) in Guelph, Kanada, vor. Spätestens dieser Auftritt etablierte den Begriff der Social License in der Diskussion in der Pferdeszene.

Auch der Präsident der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN), Hans-Joachim Erbel, widmete dem Thema einen Teil seiner ersten großen Rede nach seiner Wahl. Sein Fazit im St.GEORG: „Zur Zeit haben wir sie (die Social License), sonst dürften wir auch nicht reiten. Es geht darum, sie zu behalten. Wir müssen sehen, dass sich die Welt um uns herum verändert. (…) Da müssen wir Reiter überlegen, wo sich Maßstäbe verschoben haben, was sich verändert hat. Wir tun das, indem wir unsere Regularien in unserem Sport anpassen, damit sie in die heutige Welt passen. Es gibt andere Wertvorstellungen, darauf müssen wir reagieren.“


Kommission mit Mission

Im Juni 2022 hat der Weltreiterverband (FEI) bekanntgegeben, dass es eine zehnköpfige Kommission gibt, die das Thema Social License im Pferdesport beleuchten will. Präsident Ingmar de Vos: „Es gibt umfassende Systeme und Mechanismen, um das Wohl des Pferdes zu schützen, aber es kann und muss noch mehr getan werden. Und in einer sich ständig verändernden Gesellschaft, in der sich Wahrnehmungen ändern und Normen sich immer schneller entwickeln, muss die FEI auf diese Bedenken und Kritik aus der Gesellschaft und innerhalb der Pferdesportkreise klar und transparent eingehen.“

Die Kommission besteht aus zehn Expertinnen und Experten unter Leitung von Professor Dr. Natalie Waran, die sich an der Universität Te Pūkenga in Neuseeland mit dem Thema Wohlergehen beschäftigt. Ihr stehen Wissenschaftler aus Fachbereichen wie „Beziehungen zwischen Mensch und Tier“, Landwirtschaft, Ethik, Mitglieder aus Tierschutzorganisationen und aus dem Sport (EEF und FEI) zur Seite. Fachleute aus Deutschland wurden nicht gefragt. Ende November 2022 soll die Kommission bei der Generalversammlung der FEI erstmals öffentlich in Erscheinung treten.


Wie sieht die Olympische Zukunft des Reitsports aus?

Olympische Spiele sind wichtig für jede Sportart, gerade für diejenigen, die ansonsten von der Öffentlichkeit unbemerkt bleiben. So wie der Reitsport. Alle vier Jahre rückt er ins Rampenlicht. Deutschland, das Land der „Goldenen Reiter“. Aber wie lange noch?

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Das Dressurstadion von Tokio (© sportfotos-lafrentz.de)

Alle vier Jahre ertappt sich fast jeder von uns, dass er weiß, wie das Synchronspringen vom Drei-Meter-Brett ausgefallen ist, wie viele Ecken die Hockey-Damen geschossen und wie die Wildwasserkanuten sich durch den Kanal gekämpft haben. Olympia entfacht Sportbegeisterung. Davon profitieren alle Disziplinen, auch der Reitsport. Das ist die glänzende Seite der Medaille. Deren Kehrseite gibt es aber auch: Wenn etwas im Reitsport passiert, wird es um ein Vielfaches stärker wahrgenommen und zieht entsprechend Kreise. Bestes Beispiel: Das Versagen der deutschen Modernen Fünfkämpferin Annika Schleu und die „Hau drauf!“-Rufe der Trainerin vom Stadionrand. Der Reitsport hatte seinen Skandal. Dass Moderner Fünfkampf für Reiter eigentlich gar nichts mit Reitsport zu tun hat, war nachrangig. Das überforderte Pferd in dem zusammenstürzenden Hindernis, dazu Turnieroutfit – für die Öffentlichkeit war klar: Die Reiterei zeigt einmal mehr ihr hässliches Gesicht. Unstrittig hat Annika Schleu auf einem Pferd gesessen, deswegen kann der Öffentlichkeit kein Vorwurf gemacht werden. Dass Bilder von überforderten Reiter-Pferdekombinationen wie die aus Tokio auf Reitturnieren an jedem Wochenende auch entstehen können, wird kaum einer abstreiten, der sich auf ländlichen Turnieren bewegt.

Als dann auch noch ein Vielseitigkeitspferd nach einem komplizierten Bruch im Vorderbein eingeschläfert werden musste und ein Springpferd trotz massiver Blutungen aus der Nase den Parcours beendete, war sie wieder da: die öffentliche Diskussion um den Reitsport im Allgemeinen, und seine Zukunft im Olympischen Programm im Speziellen.

Dass es bei den Olympischen Spielen in Tokio in der Dressur keine Bilder gab wie sie neun Jahre zuvor noch in London auf dem Abreiteplatz zu sehen waren, Stichwort rüdes Malträtieren von Dressurpferden, das mit Medaillen belohnt wurde, rückt da in Vergessenheit.

Die Bilder von Tokio hatten aber schon einen Nachhall, der immerhin bis ins französische Parlament reichte. Dort hat eine Parlamentariergruppe 46 „Empfehlungen für die Organisatoren der Pferdesportveranstaltungen der Olympischen Spiele Paris 2024“ erarbeitet. Dass der Initiator und seine Mitstreiter nach Aussage von französischen Insidern der Pferdeszene nicht das erste Mal mit Ideen das Licht der Öffentlichkeit suchen, um den Reitsport zu reformieren – andere sagen diskreditieren –, kann nur bedingt beruhigen. Fakt ist, dass die französische Nationalversammlung diese 46 Empfehlungen thematisiert hat. Würde Deutschland Gastgeber der Spiele sein und der Bundestag sich mit einer Sportart derart ausführlich im Vorfeld beschäftigen, würde das sicherlich niemand einfach vom Tisch wischen.

Was soll in Paris 2024 anders sein?

Die Olympischen Reiterspiele sollen 2024 vor Schloss Versailles stattfinden. Welch eine Kulisse, großes Kino! Geht es nach dem Initiator, dem Tierarzt Loïc Dombreval, Abgeordneter für die Region Alpes-Maritimes, soll sich einiges ändern. Von der Haltung der Sportpferde vor Ort, über deren Ausrüstung, das Training und die Regeln im Wettkampf. Eine komplette Videoüberwachung und das „Welfare Committee“ (Komitee für Wohlbefinden), eine Art Sheriff-Truppe, sollen aufpassen, dass das Tierwohl oberste Priorität vor den historischen Mauern des Prunkschlosses hat.

In Sachen Haltung schlägt die Gruppe Weiden vor, große Boxen, Heufütterung ad libitum und besagte Videoüberwachung durch ein unabhängiges Unternehmen. Geplante Anreise: 15 Tage vor Wettkampfbeginn, zwecks Akklimatisierung.

Ausrüstung im Fadenkreuz

Von den 46 Vorschlägen betreffen allein zwölf die Ausrüstung. Die Zwei-Finger-Regel für das Verschnallen von Reithalftern soll mit einem speziellen Werkzeug gewährleistet werden. Kinn- bzw. Sperriemen sollen verboten werden, auch mexikanische Reithalfter, Aufziehtrensen, Schlaufzügel, gedrehte und Knebel-Gebisse sind den Verfassern des Pamphlets ein Dorn im Auge. Sie fordern, eine Liste erlaubter Gebisse zu formulieren. Etwas, das bereits existiert – die Regeln der FEI sind klar formuliert. Das, was dieses Reglement an Gebissen und Riemen erlaubt, entspricht aber nicht den Vorstellungen der Politiker.

Generell sollen Sporenschutzgurte am Bauch tabu sein genauso wie Gamaschen an den Hinterbeinen von Springpferden. Schließlich sollte nach den Vorstellungen der Verfasser das gesamte Equipment eines Pferdes auf einem Tisch ausgebreitet einer Inspektion unterzogen werden.

Dopingproben, die Überprüfung, dass die Pferde keinen Nervenschnitt haben, und Ausweitung der stichprobenartigen Anwendung von Hypo- und Hypersensitivitäts- sowie Thermografietests, um mindestens zehn Prozent der Pferde nach jeder Veranstaltung stehen auch in dem Forderungskatalog. Ferner das Verbot von Gelenkinjektionen, die Forderung nach noch strengeren Dopingbestimmungen und mehr Analyselabors. Hinzu kommt eine interessante Forderung: Vetchecks sollen per Video aufgezeichnet werden, um im Nachhinein, auch mittels Zeitlupen, eventuell bereits vorhandene Ansätze von Lahmheiten nachweisen zu können.

Bei der „geringsten Blutspur am Pferd“ soll der Ritt beendet und das Pferd vom weiteren Wettbewerb ausgeschlossen werden. Rollkur bzw. Hyperflexion sollen verboten sein, sprich auch die kurzfristige Einstellung der Stirn-Nasenlinie des Pferdes hinter die Senkrechte soll sanktioniert werden. Die Verwendung von Gerte und Sporen ist genau definiert (zweimaliger Gerteneinsatz beim Abreiten, einmal im Parcours). Alles, was darüber hinausgeht, soll zur Disqualifikation des Reiters führen. Der schon in Tokio umstrittene Modus mit drei Reitern ohne Streichergebnis soll zurückgenommen werden, die Veranstaltungen nicht unter Flutlicht stattfinden. Ersteres eine illusorische Forderung (wie manch andere auch), denn das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat, gegen den Willen vieler Reiterinnen und Reiter, die Drei-Reiter-Teams für Paris bereits vorgeschrieben.

Es folgen noch Empfehlungen für die Geländestrecke, auf der nach Vorstellung der Autoren jedes Hindernis mit MIM-System ausgerüstet sein sollte, also bei Berührung in sich zusammenfallen soll. Auch für den Modernen Fünfkampf gibt es diverse Vorstellungen. Unter anderem ein Pferd je Teilnehmer und Hindernisse nicht über 1,10 Meter Höhe.

Wird das alles kommen?

Es ist nicht anzunehmen, dass dieser Forderungskatalog umgesetzt wird. Die Organisatoren der Olympischen Spiele haben derzeit ganz andere Sorgen. Unter anderem steht noch gar nicht fest, welches Organisationsteam für die Durchführung der Reiterspiele vor Versailles verantwortlich sein wird. Ein Problem, das auch die FEI beschäftigt. Denn, wenn man mitgestalten möchte, dann braucht man einen Ansprechpartner.

So viel steht fest: Auch bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 2028 wird Reiten eine Olympische Disziplin sein. Was danach kommt, hängt von vielen Entwicklungen ab. Und ein bisschen auch von uns allen.

Organisieren Sie eine Kontrolle
von Zaumzeug und Equipment eines jeden Pferdes
auf einem Tisch mit Videoaufzeichnung.

Aus den 46 Empfehlungen für die Organisatoren der Pferdesportveranstaltungen der Olympischen Spiele 2024

sportfotos-lafrentz.de

Ein gutes Beispiel dafür, dass Pferdesport sehr wohl auch pro Pferd sein kann: Peder Fredricsons All In, der Schweden die Goldmedaille in Tokio sicherte, zuhause aber …

instagram.com/pederfredricson

… seinen eigenen Offenstall hat. Und das schon seitdem er als Siebenjähriger zu Fredricson kam. Inszwischen genießt er seine Rente.

Jan TönjesChefredakteur

Chefredakteur ab 2012, seit 2003 beim St.GEORG. Pferdejournalist seit 1988. Nach Germanistik/Anglistik-Studium acht Jahre tätig bei öffentlich rechtlichem Rundfunk, ARD, SFB, RBB in Berlin. Familienvater, Radiofan, TV-erfahren, Moderator, Pferdezüchter, Podcasthost, Preise: Silbernes Pferd, Alltech Media Award. Präsident Internationale Vereinigung der Pferdesportjournalisten (IAEJ).