Moment mal: Totilas – fünf Lektionen

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Moment mal! Die Kolumne von St.GEORG Herausgeberin Gabriele Pochhammer (© Foto Bugtrup/Montage: www.st-georg.de)

Noch einmal beherrschte Totilas die Schlagzeilen, nicht nur in den Pferdesportmedien, auch in den Sportteilen der allgemeinen Medien, gedruckt oder online, auf denen sonst der Fußball alles beiseite fegt. Nur die Info über den neuen Corona-Impfstoff wurde am Tag nach Totilas’ Tod häufiger angeklickt! Uns wurde in Erinnerung gerufen, was dieses außergewöhnliche Pferd bewirkt hat.

Denn außergewöhnlich war Totilas, vor allem durch den Zauber und die Magie, die er auch auf Menschen ausübte, die mit der Pferdeszene ansonsten wenig zu tun hatten, und eigentlich eine Pirouette nicht von einem Purzelbaum unterscheiden konnten. Jetzt kennen sie den Unterschied, immerhin.

Wenn Totilas unter dem Niederländer Edward Gal ins Dressurviereck tanzte, seine Piaffen, Passagen und Pirouetten vollführte, diese allerschwersten Lektionen, die kein Pferd besser konnte als er, dann hielten seine Bewunderer den Atem an. Seine Kritiker auch: Totilas hat Zeit seines Sportlerlebens die Fachwelt gespalten. Noch Reitkunst oder schon Zirkus? Diese Frage stand in ungeschriebenen Lettern über jedem von Totilas’ Auftritten. Wer auf die schleppende Hinterhand hinwies, auf die übertriebene Vorderbeinaktion im starken Trab oder den knappen Schritt, der galt schnell als eine Art Verräter und Nestbeschmutzer, auf jeden Fall als schimmerloser Misanthrop.
Der Rapphengst, den manche als Wunderpferd bezeichneten, war zweifellos ein wunderbares Pferd. Unter Edward Gal erhielt er Noten, die es vorher nie gegeben hatte. Er war das erste Pferd, das in der Kür mehr als 90 Prozent erhielt, seine Bestmarke lag bei 92,30 Prozent. Und Totilas hat uns über seinen Tod hinaus so manche Lektion erteilt.

Kein zweiter „Fall Totilas“

Die erste: Erfolg und schon gar Olympiasiege sind eben doch nicht käuflich, auch nicht für die angeblich zehn Millionen Euro, für die er aus den Niederlanden nach Deutschland wechselte, die aber nie bestätigt wurden. Da helfen auch keine raffinierten PR-Aktionen. Pech für die neuen Besitzer der Sportrechte, Familie Rath-Linsenhoff, für den Reiter Matthias Rath und die deutschen Reitsportfunktionäre, die gerne mit Totilas Medaillen gesammelt hätten, deren Glanz auch auf sie gefallen wäre. Aber gut für die Dressur. Sie ist ein ernstzunehmender Wettkampfsport geblieben. Nicht das dickste Konto entscheidet über Sieg und Niederlage, sondern das beste Reiten. Meistens jedenfalls.

Die zweite Lektion erteilte Totilas den Funktionären, die ihn zur Europameisterschaft 2015 ins deutsche Team beriefen, obwohl sie wussten, wie es gesundheitlich um den Hengst stand. Er war bei den Qualifikationen nicht eine einzige Kür gegangen, immerhin die Prüfung, die über die Einzelmedaillen entscheidet. Offenbar rechnete niemand damit, dass er diese dritte Prüfung nach Grand Prix und Special erreichen würde. Es kam dann alles noch viel schlimmer. Schon während des Grand Prix lahmte Totilas deutlich, bei der letzten Grußaufstellung stand er auf drei Beinen, entlastete für jeden Zuschauer sichtbar den schmerzenden linken Hinterfuß. Ein Knochenödem, hieß es. Teambronze statt Gold in Aachen. Es war Totilas’ letzter Wettkampf. Dieses Pferd, das so vielen Menschen Freude bereitet hat, hätte wahrlich einen anderen Abgang verdient.

Die deutsche Mannschaftsführung hatte sich hingegen bis auf die Knochen blamiert. Man wolle keinen zweiten Fall Totilas, wurde zum geflügelten Wort, wenn mal wieder ein Wackelkandidat für ein Championatsteam diskutiert wurde. Dass die Warendorfer Sportführung diesen Vergleich verabscheute (und sich sogar verbat), mag menschlich verständlich ein, zeugt aber von wenig Lernfähigkeit. Es darf keinen zweiten Fall Totilas geben, das sollte man sich in allen Warendorfer Etagen an die Pinnwände heften.

Rücksicht nehmen

Die dritte Lektion geht in die Richtung der Jury. Es brauchte Jahre, bis sich auch in den Richterhäuschen herumgesprochen hatte, dass Edward Gal nicht mehr auf Totilas saß, sondern auf dem überdrehten Undercover, der mit dem Superstar nur die Farbe gemeinsam hatte. Nur zu benoten, was man sieht – überfordert offenbar viele Richter.

Gesundheitliche Probleme begleiteten den Weg von Totilas von Anfang an. Die Ankaufsuntersuchung für den Stall Schockemöhle im Jahre 2010 zog sich ungewöhnlich lange hin. Was wirklich los war, darüber wird am liebsten geschwiegen. Es liegt auf der Hand, dass ein exaltierter Bewegungsablauf wie der von Totilas verletzungsanfälliger ist als ein praktischer Gebrauchstrab, für den es aber dummerweise keine Zehnen gibt. Schon bei der Europameisterschaft in Windsor 2009, als Totilas zum ersten Mal auf großer Bühne für Furore sorgte, sagte Paul Schockemöhle zu mir: „Ich würde dem Reiter raten, dieses Pferd sehr vorsichtig und schonend zu trainieren und einzusetzen.“

Lektion vier wäre demnach der Rat an den Reiter, Rücksicht auf die gesundheitliche Konstitution seines Pferdes zu nehmen, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Sie ist leichter umzusetzen, wenn der Reiter so erfahren ist, dass er nicht selbst noch die kraftraubenden Lektionen üben muss.

Ein einzigartiger Hengst

Totilas’ Leben wurde nach seinem Abschied aus dem Sport nicht schlechter, im Gegenteil. Er wurde Zuchthengst, erst in Mühlen, dann in Kronberg. Hier wurde er noch leicht bewegt, ging täglich auf die Koppel. „Er war die ganze Zeit über fit und gesund“, sagt Matthias Rath. Eines der letzten Fotos zeigt seine Mit-Besitzerin Ann-Kathrin Linsenhoff strahlend im Sattel ihres Hengstes. Er sollte jetzt vor allem seine Talente weitervererben, die Nachfrage der Pferdezüchter war zunächst riesig, das Interesse ebbte dann ab. Inzwischen gibt es von ihm zahlreiche erfolgreiche Kinder. Sie gefallen durch ihren Lerneifer und ihren freundlichen Charakter. Ein zweiter Totilas ist bisher nicht dabei. So ist das wohl bei Genies, da ist er nicht der erste. Goethe und Mozart können ein Lied davon singen.

Lektion Nummer fünf wäre dann wohl die Einsicht, dass eine überragende Eigenleistung noch keine überragende Vererbung garantiert. Was ja auch nicht neu ist. Denn ein Genie war dieses Pferd ganz gewiss, das stets aussah, als wolle es den Menschen gefallen, ein Pferd, das fast immer sein Bestes gab. Am Ende war Totilas längst nicht mehr nur ein Pferd mit vier Beinen, sondern eine Ikone, die Re-Inkarnation von Fury, Ostwind, dem schwarzen Hengst Bento und allen anderen Helden aus den Pferdebüchern für junge Mädchen. Und das wird er in den Herzen seiner Fans für immer bleiben.

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Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.