Röntgen-Leitfaden 2018: Radikale Änderung bei der Kaufuntersuchung von Pferden

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AppleMark

Mit dem neuen Röntgen-Leitfaden 2018 ändert sich auch die Kaufuntersuchung bei Pferden. Unter anderem wird der Rücken nicht mehr geröntgt. (© www.slawik.com)

Die deutsche Tierärzteschaft macht einen radikalen Schnitt bei der Beurteilung von Röntgenbildern im Rahmen der Kaufuntersuchung von Pferden. Mit dem Röntgen-Leitfaden 2018 haben „Röntgenklassen“ ausgedient und das Röntgen des Rückens entfällt.

Traumpferd gefunden, super beim Ausprobieren,  Kaufpreis passt. Schmetterlinge im Bauch bei der neuen Reiterin, jetzt nur noch die Kaufuntersuchung… Nach Aussage des Verkäufers gibt es keine Vorerkrankungen. Das Reitgefühl war gut, selbst vielfaches kritisches Betrachten des Videos vom Ausprobieren offenbart keinen falschen Tritt. Nicht im Geradeaus, nicht in der Wendung – links- wie rechtsherum. Alles klar. Eigentlich…

Die Kaufuntersuchung beim Pferd

So ganz unbesorgt ist die Stimmung dann doch nicht, als der Tierarzt mit der Kaufuntersuchung beginnt. Was, wenn das Traumpferd einen Albtraum-„TÜV“ hat? Die klinische Untersuchung ist das Kernstück einer jeden Kaufuntersuchung. Der Tierarzt überprüft den Allgemeinzustand des Pferdes, kontrolliert von Herzschlag und Atmung, über die Augen und das Gebiss alles. Er streicht an den Gliedmaßen herab – will das Pferd im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Was die erfahrene Hand ertastet und den geübten Blick stutzen lässt ist aussagekräftiger als alles, was die Röntgenstrahlen später abbilden. Das gilt erst recht für die klinische Untersuchung des Bewegungsapparats: Schritt und Trab auf festem Untergrund, geradeaus und auf der Volte, Longieren. Beugeproben, durchgeführt vom erfahrenen Pferdepraktiker, geben ergänzende Informationen.

Die klinische Untersuchung ist abgeschlossen, alles o.b.B. Das Traumpferd sieht sich auf dem Hof um und wirkt, als wolle es am liebsten sofort auf eine große Galopprunde im Gelände gehen oder ein paar Sprünge machen.

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Teil der klinischen Untersuchung: das Vortraben. (© www.slawik.com)

Zitterpartie: Röntgen

Im Rahmen der Kaufuntersuchung ist Röntgen eine Zusatzuntersuchung, um etwaige Risiken, die sich in der Knochenstruktur abzeichnen, zu kennen. Das ist der Moment, vor dem beide Parteien, Käufer wie Verkäufer zittern. Findet sich auf den Röntgenbildern etwas, das den Kauf zunichte macht? Eine Verschattung auf dem Röntgenbild! Anzeichen von Gelenkerkrankungen? Eine Zyste? Ausgeträumt! Der Käufer ist enttäuscht, weil sich neben dem finanziellen auch ein großes emotionales Investment gerade in Luft aufgelöst hat. Und der Verkäufer stellt sich die Frage, ob sein Pferd, das gerade noch dynamisch losgetrabt ist, plötzlich ein Sportinvalide ist. Oder noch schlimmeres. Autos, denen der TÜV die erhoffte Prüfplakette verwehrt wird, landen auf dem Schrottplatz. Junge Pferde mit „TÜV-Problemen“ beim Händler, im Schulbetrieb, in der Sackgasse.


Univ. Prof. Dr. ­Christoph J. Lischer,

Dipl. ECVS, hat 1989 sein Studium an der Universität Zürich abgeschlossen und anschließend bis 1993 dort als Assistent gearbeitet. Fortbildungen führten ihn 1993/94 in die USA und 1997/98 nach China (Akupunktur). Nach einer Zeit als Privatdozent an der Vetsuisse, Zürich, wechselte er als Professor für Pferdechirurgie nach Glasgow. Seit 2009 ist er Geschäftsführender Direktor der Klinik für Pferde, Allgemeine Chirurgie und Radiologie am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin.  www.vetmed.fu-berlin.de


Röntgen-Leitfaden 2018

Professor Dr. Christoph Lischer ist ein freundlicher Mann mit einnehmendem Lächeln. Aber es braucht nur zwei Worte, um den Leiter der Klinik für Pferde an der Freien Universität Berlin auf die Palme zu bringen: „Röntgenklasse“ und „TÜV“. Seiner Meinung nach sind in den letzten Jahren viele Pferde vollkommen zu Unrecht mit dem Label „gesundheitlich bedenklich“ versehen worden, was ihren weiteren Lebensweg maßgeblich negativ beeinflusst hat. Lischer ist Mitglied der Expertenkommission, die den RöLF 2018 – offiziell „Röntgen-Leitfaden (2018), Leitfaden für die röntgenologische Beurteilung bei der Kaufuntersuchung des Pferdes“, – komplett überarbeitet hat. Erklärtes Ziel der erfahrenen Veterinäre war es, die klinische Untersuchung wieder vermehrt in den Vordergrund zu stellen und die, wie Lischer sagt, „Überbewertung der Röntgenklassen“ einzudämmen. Dafür haben sich die Experten zu einem radikalen Schnitt entschieden. Röntgen­klassen gehören fortan der Vergangenheit an. Das Gremium hat sich von ihnen getrennt, weil die schulnoten-ähnliche Klasseneinteilung in vorherigen Fassungen des Röntgen-Leitfadens die Erwartungshaltung gefördert hat, mit einer einmaligen Röntgenuntersuchung skelettbedingte Risiken vollständig aufzudecken. Das könne kein Tierarzt leisten, sind sich die Experten von der Gesellschaft für Pferdemedizin einig.

Überarbeitete Version

Die von ihnen nun herausgegebene Überarbeitung, inklusive Neueinordung des Bereichs Röntgen im Rahmen der Kaufuntersuchung wird von der Bundestierärztekammer, der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft und dem Bundesverband Praktizierender Tierärzte getragen. In den kommenden Monaten lädt man bundesweit zu Informationsveranstaltungen ein. Ein wichtiges Ziel neben der Befundserläuterung des neuen RöLF (2018) ist es auch, darauf hinzuweisen, dass der Kauf des Lebewesens Pferd nicht mit dem Erwerb eines anderen „Handelsguts“ gleichzusetzen ist. Auch wenn Rechtsanwälte gerne versuchen vor Gericht es so darzustellen und nicht selten damit Recht bekommen. „Die sorgfältige klinische Untersuchung ist die wichtigste Grundlage zur Beurteilung der aktuellen körperlichen Verfassung eines Pferdes bei der Kaufuntersuchung. Die röntgenologische Untersuchung und Befundung ist eine Zusatz­untersuchung und stellt im Rah­men des Kaufgeschehens lediglich einen kleinen Ausschnitt des Befundspektrums dar.“

Das ist neu

Die sieben Röntgenklassen (I, II, III und IV plus Zwischenklassen) wurden ersatzlos gestrichen. Laut RöLF (2018) werden die Aufnahmen folgendermaßen beurteilt: Röntgenbilder, welche die normale Röntgenanatomie zeigen oder anatomische Varianten, die keine funktionelle Bedeutung haben, werden o.b.B. (ohne besonderen Befund) bezeichnet. Alle Befunde, die von dieser „normalen“ Röntgen­anatomie abweichen, werden im Protokoll notiert. Das sind entweder Befunde bei denen ein Risiko, eine Lahmheit zu verursachen, nicht zuverlässig eingeschätzt werden kann oder es sind solche Befunde, die mit einem Lahmheitsrisiko behaftet sind. Diese sogenannten Risiko­befunde werden besonders gekennzeichnet. Als Grundlage für diese Einschätzung dienen der Röntgenkommission aktuelle, internationale Lehrbücher und wissenschaftliche Studien.

Für Tierärzte gibt es auch weiterhin detaillierte Beschreibungen der Befunde mit einer Befundziffer. Parallel dazu ist eine App entwickelt worden, in der beispielhafte Röntgenbilder dem Untersucher zur Verfügung stehen. So kann er dann vor Ort auf Smartphone oder Tablet 1:1 überprüfen, wie der Befund ­einzuschätzen ist.

Bislang waren zwölf Röntgen­bilder Standard, dazu in der „erweiterten“ Fassung noch weitere Bilder von Knie und Rücken.

Mehr Röntgenbilder

Das Röntgen des Rückens sieht der RölF (2018) nicht mehr vor. Wissenschaftliche Studien haben bewiesen, dass die prognostische Aussagekraft solcher Bilder im Rahmen einer Kaufuntersuchung sehr unsicher ist. Zumal der Winkel der Aufnahme, sprich eine leicht veränderte Position des Röntgengeräts aus einem vermeintlich „gesunden“ Rücken schnell einen Fall von schwerwiegenden Kissing Spines machen kann. Richtet man den Röntgenstrahl dann gezielt auf diese problematische Stelle und zentriert korrekt auf die fraglichen Dornfortsätze, stellt sich oftmals ein anderes, besseres Bild dar – Patient „hat also doch nicht Rücken“. Doktorarbeiten mit großen Fallzahlen haben bewiesen, dass Rückenprobleme sich in der klinischen und röntgenologischen Darstellung massiv unterscheiden können. „Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, solche Befunde sind bis dato überinterpretiert worden“, so Professor Lischer.

Andererseits habe sich gezeigt, dass im Bereich Huf, Huf- und Fesselgelenk weitere Aufnahmen von Nöten seien, um die entscheidenden Bereiche gut erkennen zu können. „Die Parallelität der Hufwand mit Kontur des Hufbeins ist ein wichtiger Indikator, ob das Pferd möglicherweise einmal an Hufrehe erkrankt war. Diese Aussage kann jedoch nur getroffen werden, wenn eine schöne seitliche Aufnahme des Hufes vorliegt“, weiß Professor Lischer aus der Praxis. Wegen solcher und ähnlicher Fälle gibt es nun insgesamt 18 Röntgenbilder als Standard. „Mit den Standardprojektionen sind nicht alle möglichen röntgenologischen Befunde erfassbar. Die Beurteilung im Leitfaden bezieht sich auf diese Standardprojektionen.“ So sei beispielsweise anhand eines Röntgenbildes nicht immer eindeutig zu erkennen, ob sich die Auffälligkeit tatsächlich innerhalb einer Sehne oder eines Bandes befinden. „Verschattungen“, sagt der Experte, „müssen nicht immer Folge eines Sehnenschadens sein. Sie können auch ganz andere, weitaus banalere Ursache haben, beispielsweise eine verkalkte Struktur in der Unterhaut oder in einer Hautnarbe, was mit den knöchernen Strukturen in keiner Weise zusammenhängt.“

Sollte der untersuchende Tierarzt zur weiteren Aufklärung dieses Sachverhaltes ein Röntgenbild aus einer weiteren Position aus anderem Winkel schießen oder eine andere Ultraschalluntersuchung durchführen wollen, sollte das mit den Auftraggebern abgesprochen werden. Diese Untersuchungen ergeben unter Umständen zusätzliche Informationen, die als solche im RöLF (2018) nicht enthalten sind. Das Resultat dieser weiteren Untersuchungen muss der Tierarzt dann mit dem Autraggeber außerhalb des Werkvertrages der Röntgen-Kaufuntersuchung besprechen.

Am Ende bleibt jedes Pferd ein Individuum und „Hinweise zur üblichen röntgenologischen Beschaffenheit von Reitpferden“ kann es nicht geben. Und deswegen also Schluss mit „TÜV“ und „Röntgenklassen“. „Wir untersuchen ja gesunde Reitpferde, das sollten wir bei aller Sorgfältigkeit, die bei dem Kauf eines Pferdes angezeigt ist, nicht vergessen“, so Professor Lischer.

Das wird geröntgt

18 Standard­aufnahmen im Röntgen-Leitfaden 2018

Vorder­gliedmaße

1. Huf 90° Zentriert auf das Strahlbein

2. Zehe 90° Zentriert auf das Fesselgelenk

3. Huf 0° Nach Oxspring. Abbildung von Huf- und Kronbein sowie Teile des Fesselbeins. Es wird dringend empfohlen, bei diesen Aufnahmen etwaige Hufeisen zu entfernen. Bleiben diese auf dem Pferdehuf, muss der untersuchende Tierarzt dies dokumentieren.

Hinterglied­maße

4. Zehe 90° Zentriert auf das Fesselgelenk, überwiegender Teil des Hufs muss abgebildet sein

Sprunggelenk

5. Sprunggelenk 0°

6. Sprunggelenk ca. 45°

7. Sprunggelenk ca. 135°

Knie

8. Knie ca. 90°

9. Knie ca. 180°

Wobei nicht alle mobilen Röntgengeräte in der Lage sind, ausreichend aussagefähige Bilder vom Knie anzufertigen. Im Zweifelsfall empfiehlt es sich dann, eine Klinik mit entsprechend leistungsfähigeren Röntgengeräten aufzusuchen.


Interview mit Prof. Lischer

St.GEORG: Was ist der maßgebliche Unterschied zu den bisherigen Fassungen des Röntgen-Leitfadens?

Prof. Lischer: Der Wegfall der Röntgenklassen. Sie haben, wie sich in der Praxis herausgestellt hat,eher für größere Verunsicherung gesorgt als dass sie zur Aufklärung beigetragen hätten.

Aber Käufer wusste, woran er war. Röntgenklasse I, super, kaufen!

Wir sollten die Röntgenklassen schnellstmöglich vergessen. Das Problem war: Kaum ein Pferd hat „perfekte“ Röntgenbilder. Dafür gibt es viele mit Röntgenveränderungen, von denen wir aus unzähligen Beispielfällen aus der ganzen Welt wissen, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie eine Lahmheit hervorrufen werden. Trotzdem klebte an diesen Pferden ein gewisser Makel. Jeder will doch nur das Beste, das ist ganz natürlich, und das Beste war Röntgenklasse I. So sind viele Pferde „krank“ geschrieben worden, von denen wir nach der klinischen Untersuchung wussten, dass sie gesund sind.

Bis dass der TÜV uns scheidet …

Das Wort TÜV gehört aus dem Pferdevokabular gestrichen! Der TÜV ist gegründet worden, um Dampfkessel von Lokomotiven zu überpüfen. Ein Pferd ist keine Maschine, also auch kein TÜV.

Sie sehen nun mehr Standardaufnahmen vor, verzichten aber auf den Rücken?

Wir haben zusätzliche Aufnahmepositionen definiert, weil die Erfahrung uns gezeigt hat, dass nur so wichtige Bereiche genau betrachtet werden können: Hufgelenk und Fesselgelenk werden jetzt an den Vordergliedmaßen gesondert geröngt und im Bereich Knie werden Aufnahmen in zwei Ebenen, eine von der Seite wie bisher, und eine von hinten nach vorne gemacht. Außerdem röntgen wir nun das Sprunggelenk in drei statt wie bisher zwei Ebenen.

… der Rücken?

Darauf verzichtet der RöLF (2018), weil die Forschungslage uns sagt, dass der Aussagewert dieser Aufnahmen nicht ausreicht. Außerdem sehen wir hier häufig Aufnahmen, die den eigentlichen Zustand der Wirbelkörper und Dornfortsätze nicht widerspiegeln. Ist das Pferd klinisch auffällig, also beim Abtasten schmerzempfindlich, oder in der Rückenbeweglichkeit eingeschränkt, können auf Wunsch des Käufers Röntgenbilder vom Rücken angefertigt werden. Aber das ist erstens nicht Bestandteil der standardisieren Ankaufsuntersuchung und zweitens haben wir dann ja einen Hinweis von der klinischen Untersuchung. Und die gilt es immer ernst zu nehmen.

Wie kann ich sicher sein, dass mein Tierarzt der richtige für die Ankaufsuntersuchung ist? Gibt es ein Zertifikat?

So etwas gibt es (noch) nicht, würde aber meiner Meinung nach Sinn machen. Wer sich im Vorfeld umhört, wird sicherlich einen Fachtierarzt für Pferde finden, der über ausreichend Erfahrung mit Kaufsuntersuchungen verfügt. Wenn ein Kollege dies nur sporadisch macht, sollte man sich als Käufer überlegen, ob er der richtige ist.


Zur Geschichte des Röntgen-Leitfadens

Den ab dem 1. Januar 2018 gültigen Röntgen-Leitfaden hat die Röntgenkommission der Gesellschaft für Pferdemedizin (GPm) bestehend aus Dr. Gerd Brunken, Dörverden, Dr. Werner Jahn, Bargteheide, Prof. Dr. Christoph Lischer, Berlin, Dr. Eberhard Schüle, Dortmund sowie Prof. Dr. Peter Stadler, Hannover formuliert. Der Röntgen-Leitfaden ist eine deutsche Besonderheit. 1993 gab es eine erste Initiative, Röntgenaufnahmen im Rahmen der Ankaufsuntersuchung vergleichbar zu machen. 2002 erschien die erste Fassung, in der erstmals mit Röntgenklassen gearbeitet wurde. 2007 wurde das Werk neu überarbeitet und die Röntgenklassen anders definiert. Weil auch diese Version nicht den gewünschten Erfolg hatte und es zu einer aus wissen­schaftlicher Sicht unbegründet starken Überbewertung der Röntgenbilder zum Nachteil der klinischen Untersuchung kam, wurde für die Neufassung 2018 ein komplett neuer Ansatz verfolgt, bei dem Befunde nicht mehr klassifiziert, sondern beschrieben werden. Der Endverbraucher hat den Vorteil, nun klar zu erkennen, wenn ein Befund risikobehaftet ist.

Infos: www.gpm-geva.org

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Jan TönjesChefredakteur

Chefredakteur ab 2012, seit 2003 beim St.GEORG. Pferdejournalist seit 1988. Nach Germanistik/Anglistik-Studium acht Jahre tätig bei öffentlich rechtlichem Rundfunk, ARD, SFB, RBB in Berlin. Familienvater, Radiofan, TV-erfahren, Moderator, Pferdezüchter, Podcasthost, Preise: Silbernes Pferd, Alltech Media Award. Präsident Internationale Vereinigung der Pferdesportjournalisten (IAEJ).